Kurzbeschreibung
Wenn die Realität Risse bekommt, beginnt der wahre Albtraum.
Kenneth Dearing führt ein Leben wie aus dem Bilderbuch: Er ist glücklicher Familienvater, tiefgläubiger Christ und engagierter Sozialarbeiter im Department for Children and Families in Manhattan, Kansas. Doch unter der Oberfläche der kleinstädtischen Idylle und der brütenden Sommerhitze braut sich etwas Dunkles zusammen.
Als Kenneth sich des Falles des jungen David Jenkins annimmt, gerät er ins Visier der einflussreichen und skrupellosen Familie Garil. Doch sein gefährlichster Gegner ist nicht der Patriarch Damian Garil, sondern Kenneths eigener Verstand. Immer häufiger leidet er unter unerklärlichen "Aussetzern" – Momente, in denen sein Herzschlag aussetzt und die Welt um ihn herum in einem digitalen Flimmern zu zerfallen droht.
Sind es die Symptome einer Krankheit, der Stress seines Jobs oder der Beginn von etwas, das weit über seine Vorstellungskraft hinausgeht? Als sein Kollege unter mysteriösen Umständen stirbt und Kenneth selbst ins Fadenkreuz gerät, muss er erkennen, dass seine Wahrnehmung der Realität vielleicht die größte Lüge von allen ist.
Ein psychologischer Thriller über Macht, Kontrolle und die Frage, was wirklich real ist.
Leseprobe
Carl und ich überquerten unseren Frauen folgend die schmale 5. Straße. Die anderen Gemeindemitglieder begrüßten uns, winkten oder kamen heran, um uns mit einem Handschlag, gefolgt von einer herzlichen Umarmung, willkommen zu heißen. Nichts war gespielt, nichts aufgesetzt. Fremde oder Argwohn gab es hier nicht. Auf diesem Platz erfuhr man das, was nicht in der Zeitung stand. Man bekam alle Informationen aus erster Hand. Es wurden Einladungen ausgesprochen, man verabredete sich, um gemeinsam in den größeren Gemeinden einzukaufen. Suchte man Helfer für Renovierungsarbeiten oder wollte der Wagen nicht mehr anspringen, dann fand man hier Rat und Tat.
Wie vermutet entdeckte ich meine Kinder, umgeben von Harpers Freunden. Die Kleinen folgten den Größeren. Die Jugendlichen standen dabei, unterhielten sich, ließen aber die Kleineren keine Minute unbeaufsichtigt, wenn diese über die gelbliche, vertrocknete Wiese neben dem Gotteshaus tobten. Unsere Gemeinschaft gab Sicherheit.
Heute hielt ich mich eher abseits. Ich redete wenig, gab, wenn überhaupt, nur knappe Antworten und bekam von den Unterhaltungen in meiner Umgebung wenig mit. Nicht nur meiner Frau, die immer wieder besorgt in meine Richtung sah, fiel mein Verhalten auf; auch mich selbst verunsicherte mein Zustand. Ich achtete penibel auf meinen Herzschlag, wartete beinahe auf den nächsten Aussetzer und suchte im hellen Blau des Himmels dieses unangenehme, digitale Flimmern. Nichts!
Pastor Lukas hatte bereits beide Flügel der schweren Eichenpforte weit nach innen aufgezogen und sie mit hölzernen Keilen fixiert, als wolle er sicherstellen, dass auch wirklich jedes Schäfchen den Weg hinein fand. Er stand breitbeinig auf dem Absatz, lächelte ein strahlendes, einladendes Lächeln und winkte die eintreffenden Familien zu sich heran. Die Gemeindemitglieder strömten auf die vier ausgetretenen Steinstufen zu, ein buntes Meer aus Sonntagskleidern und dunklen Anzügen.
Lukas Warren war selbst für hiesige Verhältnisse eine imposante Erscheinung. Der dunkelhäutige Riese füllte den Türrahmen fast gänzlich aus. Mit seinem massiven Nacken und den breiten Schultern wirkte er weniger wie ein Seelsorger, sondern eher wie ein Schwergewichtsboxer, der sich nur zufällig in einen Talar verirrt hatte. Sein sanfter Händedruck verwunderte jedes Mal aufs Neue, und der gutmütige, warme Gesichtsausdruck stand im krassen Widerspruch zu dem gewaltigen Schatten, den unser Seelsorger mit seiner Statur warf.
»Kommst du, Kenneth?«, winkte mich meine Frau zu sich. »Ja, ich komme«, antwortete ich leise. Liz an der linken Hand haltend, schob ich Mason mit der rechten die Stufen hinauf. Meine Knie zitterten leicht. Liz bekam als Erste die riesige Hand entgegengestreckt, wechselte lächelnd einige Worte mit unserem Pastor, der direkt danach zuerst Harper, dann meinem Sohn zur Begrüßung liebevoll über die Köpfe strich.
»Guten Morgen, Kenneth«, klang es plötzlich dumpf, dunkel und irgendwie verzerrt in meinen Ohren. In Zeitlupe drehte sich unser Pfarrer zu mir. Zunächst achtete ich nur auf seine Hand, die er mir freundlich entgegenzustrecken schien. Meine Blicke wanderten weiter über die breite Brust nach oben in sein Gesicht. Der Schock traf mich wie ein Hammerschlag. Der kalte, abgrundtiefe Hass sprang mir aus seinen weit aufgerissenen, unnatürlich hervorgedrückten Augen entgegen. »Die Rache ist mein!«, schrie mich Lukas Warren mit gefletschten Zähnen an.
Seine Stimme klang nicht menschlich, sie war ein vielstimmiges, digitales Grollen. Ich vereiste. Spürbar verformte sich mein Gesicht zur angsterfüllten Fratze. Meine Reflexe spielten verrückt. Ich wollte mich abwenden, wollte Schutz bei den anderen suchen, blieb aber wie angepflockt in dieser Situation hängen. Alles um mich herum schien in Zeitlupe abzulaufen, wirkte nicht greifbar, dabei aber extrem beängstigend. Die Welt bekam Risse.
»Die Rache ist mein!«, schrie er wieder und traf mich mit diesen aus zitternden Lippen voller Hass hervorgepressten Worten wie mit wuchtigen Schlägen. »Ich sage dir: Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr«, hörte ich. Ich wurde von übergroßen Fäusten bedroht, riss mich los, drehte mich zur Seite und wollte fliehen. Schreie... Laute, verzerrte Schreie verfolgten mich. Ich drückte einige gesichtslose Menschen zur Seite, stolperte die erste Stufe der Treppe hinunter und wurde von meinem Nachbarn aufgefangen.
»Carl, hilf mir, hilf mir«, bettelte ich ihn an, meinen Kopf auf seine Schulter gepresst. Er reagierte nicht. Langsam nahm ich meinen Kopf hoch und sah in seine Augen. Sie waren leer. Tot. »Carl, was ist? Was ist mit dir?«, schrie ich ihn an und riss dabei an seinen Schultern. Sein Gesicht zeigte weiter keine Regung. »Carl!« Ich schlug meinem väterlichen Freund auf die Brust, und er reagierte plötzlich. Er riss seine Augen noch weiter auf, ein Schwall aus Tränen stürzte über seine Wangen, und er streckte mir seine blutigen Hände entgegen.
»Warum? Sag mir bitte, warum!«, flüsterte er mir wimmernd zu. Angewidert wollte ich Carl wegstoßen, suchte Hilfe, sah in die teilnahmslosen Gesichter der anderen Gemeindemitglieder. Zuerst verlor ich meine Nerven, und jetzt verabschiedete sich auch mein Körper. Meine Beine gaben nach. Meine Knie knickten ein wie Streichhölzer. Ich fiel zur Seite und versuchte, mich mit meinen Händen abzustützen.
Liliannas Gesicht schnellte mir mit weit aufgerissenen Augen von unten entgegen. Der Schwall dunklen Blutes, den sie dabei ausspie, nahm mir kurzzeitig die Sicht. Ich suchte meine von klebriger Nässe umgebenen Hände und fand sie im geöffneten Oberkörper meiner Nachbarin. Die Übelkeit übermannte mich. Alles um mich herum begann zu rotieren, wurde schwarz und verschwand...
REJUSTING 1.8
»Adrenalin, Puls und Kohlendioxid-Konzentration sind deutlich zu hoch. Wenn wir jetzt nichts unternehmen, dann wird der Blutdruck jeden Augenblick komplett einbrechen.« »Schläft er jetzt?« »Nein, er kann uns hören. Wir müssen die Narkose langsam einleiten.« »Denk daran, wir dürfen ihn nicht verlieren! Die Schule meiner Töchter kostet richtig Geld.« »Ich tu mein Bestes!«
Ich spürte mein Herz nicht mehr. Es war einfach weg. Ich hatte das Gefühl, nach vorne zu fallen, ins Nichts zu stürzen. Zuerst sah ich verschwommen, dann ein helles Flimmern, das von oben herabregnete wie digitaler Schnee, sich nach unten ausbreitete und sofort wieder verschwand. Ich schüttelte mich kurz, rieb mir die Augen und fuhr mit den Fingern durch meine Haare.
»Alles ok, Kenneth?« Die Stimme meiner Frau holte mich zurück. Sie klang besorgt, aber auch seltsam fern, als käme sie durch Watte. »Ja, alles ok, Schatz. Ich habe nur überlegt, ob wir etwas vergessen haben.«
Die weitere Fahrt nach Belvue war mir Ablenkung und Aufregung zugleich. Die Landschaft, die an uns vorbeizog – staubige Felder, auf denen der Mais vertrocknete, flirrende Hitze über dem Asphalt –, und später die banalen Unterhaltungen der Menschen in meiner Umgebung halfen mir, meine Ängste so weit zur Seite zu drücken, dass auch andere Gedanken wieder Raum fanden. Mein Nachbar Carl, seine Frau Lilianna und die anderen Gemeindemitglieder nahmen uns auf.
Sie gaben uns Sicherheit und eine fast narkotisierende Vertrautheit. Pastor Lukas begrüßte uns freundlich – kein Hass, keine dämonische Fratze, nur das breite, gütige Lächeln eines Seelsorgers, der seinen Frieden gefunden hatte. Das schmucklose Gotteshaus, das gemeinsame Singen, die wahren Worte von Lukas Warren, aber vor allem die spürbare Nähe zu unserem Herrn Jesus Christus gaben mir neue Kraft. Ich verließ unsere Kirche als neuer Mensch. Ich hatte keine negativen Gedanken mehr, fühlte mich frisch, freute mich auf den Rest des Tages und sogar auf die nächste Arbeitswoche. Es war, als hätte jemand einen Reset-Knopf gedrückt und alle dunklen Wolken aus meinem Kopf gelöscht.
Den Rest des Sonntages ließen wir es uns gut gehen. Eine fast unheimliche Harmonie legte sich über unser Haus, so perfekt, dass man hätte meinen können, wir posierten für einen Werbespot für das amerikanische Familienglück. Mason und Harper planschten mit ihrer Mutter im Pool. Das Wasser glitzerte in der Sonne wie flüssiges Silber, und das Lachen meiner Kinder hallte von den Hauswänden wider.
Ich widmete mich derweil, am Terrassentisch im Schatten sitzend, meiner Sonntagszeitung, blätterte den Mercury komplett durch und überflog mehr oder weniger interessiert jede Rubrik. Aber immer wieder glitt mein Blick von den schwarzen Buchstaben ab und wanderte zum Wasser. Ich beobachtete Mason, wie er mutig vom Beckenrand sprang, prustend wieder auftauchte und sich die nassen blonden Haare aus der Stirn strich. Ich beobachtete Harper, die langsam zur jungen Frau heranwuchs, und spürte diesen bitter-süßen Stich im Herzen, den jeder Vater kennt: Stolz gemischt mit der Angst vor dem Loslassen. Und ich sah Liz. Wie sie lachte, wie das Wasser auf ihrer Haut perlte. Ich spürte eine Liebe für sie, die so intensiv war, dass sie fast schmerzte. Ich wollte diesen Moment festhalten, ihn konservieren wie ein Insekt in Bernstein.
Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel, die Luft war staubtrocken und schmeckte nach heißem Sand und Ozon. Einen Blick zum Thermometer später gab ich den Spielverderber. »Wir gehen besser rein. 110 Grad Fahrenheit ist deutlich zu heiß. Ihr dürft heute Abend noch mal raus!«, rief ich meinen schon leicht geröteten Kindern zu. »Dad hat recht. Los, raus aus dem Wasser, duschen, dann suchen wir gemeinsam einen Film aus«, sprang mir Liz zur Seite. »Bekommen wir ein Eis?«, wiederholte Mason die Frage, die ihm von seiner Schwester taktisch klug ins Ohr geflüstert worden war. »Bekommt ihr. Aber erst wird geduscht.«
ENDE...
...der Leseprobe