1. Allein
Samstag, 11:30 Uhr.
Ausgeruht und ausgeschlafen war er aus seinem Bett gestiegen und verspürte nicht den Drang, sich schneller als nötig zu bewegen. Er entledigte sich seines Schlaf-Shirts und seiner Unterhose, indem er beides in den Wäschekorb warf, und spazierte direkt danach in sein kleines Badezimmer. Die morgendliche Dusche tat gut, er ließ sich einige Minuten länger als notwendig den heißen Regen gefallen und stieg erst aus der Kabine, als der komplette Raum in dichtem Nebel lag. Er trocknete sich ab, wischte mit dem Handtuch den Spiegel frei, putzte sich die Zähne und besprühte sich wenig sparsam mit seinem Lieblingsdeo. Bevor er das Bad verließ, öffnete er, um den Dampf abziehen zu lassen, das Fenster. Wieder im Schlafzimmer, nahm er einen Schlüpfer aus der Schublade, zog ihn über und begann sofort, die Spuren der letzten Nacht an seinem Schreibtisch zu entfernen.
Ein Glas und einige Bierflaschen räumte er in die Küche, kam mit Glasreiniger und Küchenrolle zurück und säuberte die Tischplatte. In der Küche zog er das Fenster auf, startete seinen Kaffeeautomaten und ließ sich die erste Tasse seines geliebten Cappuccinos heraus. Seine Frühstücks-Menthol ließ er sich am offenen Fenster schmecken, löschte sie am Wasserhahn, entsorgte die Kippe im Mülleimer und schloss das Fenster. Der süßliche Geruch lockte ihn zurück an seinen Automaten, wo er sich die Tasse griff und die Küche hinter sich ließ.
Paul lief in seinem kleinen Wohnzimmer auf und ab, die Cappuccinotasse hielt er dabei locker in der Hand. Er genoss den heißen Muntermacher, das lockere Schwingen in seiner weißen Feinripp-Unterhose und die Wärme der Gasheizung auf seinem nackten Oberkörper. Bis vier Uhr nachts hatte er am Computer gespielt, wie eigentlich jeden Freitag, herrlich geballert, Freunde per Kopfhörer und Mikrofon direkt ins Schlafzimmer geliefert bekommen. Drei bis vier Bier gönnte er sich dabei immer, manchmal auch mehr.
Paul lebte, seitdem er vor ein paar Jahren bei seinen Eltern ausgezogen war, alleine. Nicht, dass er nicht gerne eine Frau an seiner Seite gehabt hätte, aber woher nehmen und nicht stehlen!? Es fehlte ihm die Zeit, um eine kennenzulernen, schließlich musste er unter der Woche um sechs Uhr aus dem Haus und kam kaputt und müde erst nach siebzehn Uhr wieder daheim an. Gegessen wurde meistens Fertigfutter aus der Dose oder eben Pizza. Abends setzte er sich im Normalfall das Headset auf den Kopf und es wurden zwei bis drei Stunden gezockt. Dann war auch schon Zeit fürs Bett. Manchmal hatte er noch die Energie, um einige Seiten seiner Lieblings-Horrorromanserie zu lesen, aber spätestens dreiundzwanzig Uhr war Schluss. Er rollte sich zur Seite und schlief eigentlich immer sofort ein.
Das war sein Alltag, den er nicht anders kannte und wenn er ehrlich war, auch nicht anders wollte. Besuch bekam er eher selten, wer hätte ihn auch besuchen sollen? Freunde hatte Paul nur außerhalb der realen Welt auf den Schlachtfeldern der bekannten Ego-Shooter, im reellen Leben gab es für ihn keine oder keine Richtigen. Sicher hatte auch er Arbeitskollegen, Nachbarn und natürlich Familie, aber seine kostbare Freizeit verbrachte er lieber ohne sie und mit seinen »Freunden« aus dem Internet. Während man sich auf den Servern der Ego-Shooter durch die virtuellen Welten kämpfte, konnte man sich nicht nur über das Spiel an sich unterhalten, nein es gab durchaus auch Zeiten, in denen man echte Unterhaltungen führen konnte. Je später der Abend, je mehr Bier, desto privater und freundschaftlicher wurden die Gespräche. So war es auch in der letzten Nacht gewesen. Zuerst ging es um Waffen, dann um Autos, kurz danach um Frauen und schließlich um Sex. Sex hatte er, ja auch am Computer, aber warum nicht? Es gab kostenlose Videos und die waren doch besser als gar nichts. Echten Sex? Davon hatte er schon gehört!
Immer noch lief er in der Wohnung hin und her und überlegte, wo er heute am besten mit dem allsamstäglichen Wohnungsputz anfangen sollte und was so alles zu tun wäre. Kurz ging er ins Bad, um auch dort genau nachzusehen. Hier mussten heute die Fliesen geschrubbt, Waschbecken, Dusche und Toilette mit Kalkentferner und die Rohre mit Rohrreiniger bearbeitet werden. Alleine wohnen klar, aber sauber durfte es ja trotzdem sein. Für einen Junggesellen war er da vielleicht etwas perfektionistisch veranlagt. Aber es war ihm wichtig, dass er sich zu Hause wohlfühlte und wie hätte er sich im Dreck wohlfühlen sollen!?
Die Tür zum Bad lag genau gegenüber der Wohnungstür und gerade als er aus dem Bad ging und die Tür hinter sich schloss, schrillte über ihm die Klingel und er erschrak derart darüber, dass ihm der gute Cappuccino nach vorne und nach hinten aus der Tasse schwappte. Verdammt, schon wieder klingelte es, da schien es jemand sehr eilig zu haben! Er riss die Wohnungstür vor sich auf und hatte sich schon darauf eingestellt, dem ungeduldigen Störer gewaltig den Marsch zu blasen. Als er aber in die leuchtend blauen Augen seiner Nachbarin Sabine sah, verwarf er diesen Plan und brachte stattdessen zunächst kein Wort heraus. Die kleine Blondine mit den großen Augen, der schmalen Taille, dem einladendem Becken und den großen abstehenden Brüsten, die dafür sorgten, dass ihr Shirt oben zu eng und unten zu weit wirkte, war schon der absolute Hammer. Er stand ihr mit leicht offenem Mund gegenüber, hielt seine Tasse in der Hand und genoss den Anblick. Die kleine Nachbarin sah ihm frech ins Gesicht und fragte:
»Sorry, hast Du eine Tasse Zucker für mich?«
Paul war noch nicht ganz da und sah sie immer noch nur an. Dafür begann sie ihn nun zu mustern. Ihr Blick wanderte dabei von seinem Gesicht über seine nackte Brust zum Bauch. Das war ihm jetzt doch peinlich und er fing an zu stottern:
»Zezezu Zucker ich muss gu eh gucken.«
Ihr Blick wanderte weiter zu seiner Hose, und ihr Gesichtsausdruck änderte sich zusehends, von interessiert, über schockiert, bis direkt zu angewidert. Sie schüttelte kurz den Kopf und sagte:
»Lass mal, ich wollte sowieso noch schnell einkaufen und wollte dich nicht stören!«, dabei drehte sie sich von ihrem Nachbarn weg und ging die ersten Schritte zurück in ihre Wohnung.
Paul schaute an sich hinunter und erschrak. Er hatte nicht nur eine stahlharte Morgenlatte, die sich nicht deutlicher hätte abzeichnen können. Nein, direkt an der Spitze lief ein weiß-gelber Cappuccinofleck nach unten. Er spürte förmlich, wie sich seine Gesichtsfarbe änderte. Was sollte sie von ihm denken oder besser, was hatte sie wohl gerade von ihm gedacht? Jetzt musste er handeln und retten, was zu retten war! Er stürzte einen schnellen Schritt nach vorne, griff an ihre Schulter und stammelte:
»Dada das ist nicht!«
Entsetzt fuhr Sabine herum, stieß dabei an seinen Arm und wieder schwappte die Brühe aus seiner Tasse. Diesmal ergoss sich ein Teil des Cappuccino auf den Boden und ein anderer genau auf ihr weißes T-Shirt. Das warme Getränk lief ihr über die Brust und das Nass gab freie Sicht auf ihre rechte Brustwarze. Dieser Anblick überforderte und verunsicherte ihn komplett, er wollte den Fleck wegwischen, bremste gerade noch rechtzeitig, sie wich trotzdem aus und trat in die kleine Pfütze auf dem Boden. Mit einem spitzen Schrei rutschte sie weg und kniete nun mit einem Bein so vor ihm, dass ihre Nase beinahe sein bestes Stück berührte. Eigentlich ein traumhafter Anblick.
»Was ist da draußen los, verdammt?«
Der Freund der Blonden, ein dunkelhäutiger Hüne, stand urplötzlich im Hausgang und schien über die Szene, die ihm dort geboten wurde, wenig begeistert zu sein. Mit offenen Mündern sahen die Nachbarin und Paul den Riesen an und Paul stammelte:
»Nur äh, nur Cappuccino.«
Im nächsten Moment wurde es dunkel.
Als er die Augen langsam wieder öffnete, erschien vor ihm ein herrliches Dekolleté, ein wunderschöner Ausschnitt. Darin wippte und schaukelte es, dass er dachte, er müsse im Paradies erwacht sein. Im Hintergrund hörte er leise Stimmen:
»Ja ok, sorry es tut mir leid, aber wie sah das denn aus!?«
»Musste das denn sein, Mensch beherrsche dich mal!«
Das Gespräch kam aber so leise bei ihm an, dass er sich in seinem Traum nicht stören ließ und als er sich wieder bewegen konnte, herzhaft in die Auslage griff. Beinahe schlagartig war der Traum beendet und es wurde abermals dunkel. Das Aufwachen war diesmal ungleich intensiver, schmerzintensiver, denn bevor er überhaupt etwas sah oder hörte, spürte er den Schmerz. Er hatte das Gefühl verwundet auf einem Schlachtfeld aus seiner Spielewelt zu liegen, eine Granate musste neben ihm explodiert sein und ihn schwer verwundet haben. Er dachte aber auch daran, dass er vielleicht doch weniger spielen sollte, wenn die Träume danach so extrem real würden.
Paul öffnete die Augen, sah keinen Ausschnitt, kein Wippen, aber auch kein Schlachtfeld. Er lag in keinem Schützengraben, er sah einfach die graue kalte Wand des Treppenhauses. Langsam rappelte er sich hoch, stützte sich dabei an der Wand ab und schleppte sich in seine Wohnung und dort direkt in sein Badezimmer.
»Meine Freffe, wie feh ich auf?«
Er hatte in den Spiegel gesehen und glaubte nicht, was er da sah. Das linke Auge war leicht geschwollen und rot, auf der rechten Seite hatte er einen Schuhabdruck vom Auge bis zum Kinn. Das komplette Profil war zu sehen und er glaubte sogar, das Markenzeichen erkennen zu können.
»Feife man, waf if mit dir paffiert?«, fragte er sein Spiegelbild, bekam wie erwartet keine Antwort und schleppte sich unter Schmerzen in die Küche, nahm dort einen Kühlakku aus dem Eisfach und schwankte damit in sein Wohnzimmer, wo er sich auf den Sessel fallen ließ. Er kühlte sein Gesicht, sah dabei an sich herunter und wunderte sich über den Fleck auf seiner Unterhose.
»Meim Gogg waf hab iff nur gemacht?«, fragte er sich selbst, kühlte weiter sein Gesicht und schlief nach einer Weile einfach ein.
Sonntag, 9:15 Uhr.
Sein Blick fiel auf den Wecker. Wie er in sein Bett gekommen war, daran konnte er sich nicht erinnern. Er musste über zwanzig Stunden durchgeschlafen haben und fühlte sich jetzt ausgeruht und fit. Sollte das Aufwachen im Treppenhaus und die Blessuren in seinem Gesicht nur ein böser Traum gewesen sein? Egal, er musste erst mal richtig wach werden. Deshalb lenkte er seine Schritte in die Küche, an den Automaten und ließ sich einen ersten Cappuccino heraus. Ja, so konnte der Tag beginnen! Beim Ansetzen der Tasse verspürte er schon den ersten Schmerz und als seine Finger die Lippen abtasteten, wurde ihm klar, das konnte kein Traum gewesen sein. Mit der Tasse in der Hand betrat er das Bad und warf beinahe vorsichtig einen ersten Blick in den Spiegel.
»Aff du Scheiffe!«
Ungläubig betastete und besah er weiter sein Gesicht. Ein blauer Fleck unterm linken Auge und einen Schuhabdruck über die ganze rechte Gesichtshälfte. Das war echt, keine Einbildung und trotzdem völlig surreal. So konnte er Morgen unmöglich aus dem Haus, so konnte er sich unmöglich auf der Baustelle bei den Kollegen oder bei Kunden blicken lassen. Eine Ausrede musste her oder noch besser, Urlaub! Er nahm sich schon mal vor, gegen Mittag bei seinem Chef zuhause anzurufen. Paul arbeitete in einem kleinen Familienbetrieb als Gas-Wasserinstallateur. Allzu viele Aufträge gab es zurzeit nicht und vielleicht konnte er seinem Chef mit dem Urlaub sogar einen Gefallen tun.
Paul setzte sich in seinem Wohnzimmer auf den Sessel und versuchte sich zu erinnern, was da mit ihm passiert sein konnte. Aber nichts, nicht die leiseste Ahnung, beinahe alles weg! Er wusste nur noch, dass er im Flur gelegen hatte. Warum und was er dort vorher zu tun hatte? Keinen blassen Schimmer! So sehr er auch überlegte, er konnte sich weder den Zustand seines Gesichtes noch den seiner Unterhose erklären. Das einzig Positive an der ganzen Situation war, dass die Blondine von gegenüber ihn so nicht gesehen hatte. Was hätte die süße Maus von ihm denken sollen!? Vorbei ist vorbei und nicht mehr zu ändern.
Er nahm sich also vor, nicht mehr darüber nachzudenken, schaltete stattdessen seinen Fernseher ein, zappte hoch und wieder runter, blieb kurz bei den Nachrichten hängen und drückte sich erneut einmal hoch und einmal runter durch die Sender. Sonntags um diese Zeit lief nichts oder besser, es lief nichts, was auch nur einigermaßen sinnvoll gewesen wäre. Ein penetrantes Klingeln unterbrach sein Zappen und so stand er auf, schaltete den Fernseher aus, schlüpfte in seine Jeans und ging zur Tür. Eigentlich erwartete er niemanden, wen auch am Sonntag um diese Zeit. Paul öffnete die Tür und ärgerte sich im selben Moment, dass er so leichtsinnig gewesen war. Selbst am Sonntag schickte man also heutzutage die Vertreter oder Bibelverkäufer zu den Leichtgläubigen und Naiven in die Häuser, um sie übers Ohr zu hauen, sie zu bekehren, aber auf alle Fälle um ihnen in irgendeiner Form das Geld aus den Taschen zu ziehen.
Gut, da war sein Gegenüber bei ihm genau richtig. Paul musterte den Klinkenputzer abfällig und hatte sofort den Verdacht, dass er wohl das große Los gezogen hatte, zum ersten Kunden in der zweifelhaften Karriere dieses Störenfriedes erwählt worden zu sein. Aber alle Achtung, das Kerlchen hatte sich wirklich fein herausgeputzt. Er musste Anfang bis Mitte dreißig sein, trug einen grauen, knitterfreien Anzug und nicht nur die Krawatte hatte man ihm akkurat angelegt, auch seine langen schwarzen Haare, die zu seinem dunklen Teint passten, waren so zu einem Pferdeschwanz gebunden, dass kein einziges Haar abstand. Paul nahm sich vor, direkt nachdem er den Kerl abgewimmelt haben würde, im Lexikon nachzusehen ob unter dem Wort »Schmierlappen« ein Foto dieses Typen abgedruckt war. Er beschloss, die Karriere des Hausierers zu beenden, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte und sich somit zum Retter einer wahrscheinlich nicht geringen Zahl hilfloser Rentner aufzuschwingen.
Paul baute sich im Türrahmen auf, lächelte, schaute sein Gegenüber fragend an und als dieser gerade die Unterhaltung mit »Ich bin ...« beginnen wollte, wurde er von Pauls leisem »pscht« unterbrochen. Obwohl man ihm schon jetzt seine Verunsicherung deutlich ansehen konnte, startete er von vorne: »Ich ...«, wieder unterbrach ihn Pauls »pscht!«. Paul lächelte weiter, als er dem jetzt komplett aus dem Konzept gebrachten Anzugträger seinen Zeigefinger vor die Lippen hielt und noch mal ein leises »Pscht« zuflüsterte.
»Ich unterbreche sie nur sehr ungern, aber wir kürzen das mal ab. Nein, ich will keine Bibel, kein Fernsehheft und kein Lotterielos kaufen. Ich glaube an die heilige Mumu vom Titisee, ich habe gar keinen Fernseher und ich will auch keine Reise in die Türkei gewinnen. Sollte mir je der Sinn nach Türkeifeeling stehen, dann lege ich mich mit der Luftmatratze an den Hauptbahnhof!«, damit trat er einen Schritt zurück und schloss die Tür.
Herrlich, er sonnte sich geradezu in diesen Momenten, die ihm hin und wieder Abwechslung und Freude brachten. Schon wieder klingelte es, da war wohl einer besonders hartnäckig. Paul öffnete nur einen Spalt und fragte freundlich:
»Etwas vergessen?«
Der Dunkelhaarige antwortete und wurde dabei ausnahmsweise nicht gestört: »Eigentlich wollte ich mich nur vorstellen, mein Name ist Demirel und ich bin neu hier im Haus.«
Das änderte natürlich einiges, vor allem aber Pauls Gesichtsausdruck, von süffisant zu aufgesetzt interessiert.
»Mensch Junge, sag das halt gleich, wie kann ich dir helfen?«
Demirel sammelte sich, pustete einmal durch und wurde sofort deutlich lockerer.
»Wie gesagt, wollte mich nur kurz vorstellen, ich bin neu im Haus und neu in der Stadt, kenne hier also noch keinen und wollte nur mal so ins Reden kommen.«
Mit der Nachbarschaft wollte es sich Paul nicht verscherzen, musste schnell reagieren und nahm Anlauf, um über seinen eigenen Schatten zu springen.
»Ja dann komm halt mal rein und trink einen Cappuccino mit.«
Demirel freute sich sichtlich über die unerwartete Einladung seines bisher doch eher sehr unfreundlichen neuen Nachbarn.
»Ich will dir keine Mühe machen, aber wenn du einen übrig hast, dann gerne und weil wir schon beim ›Du‹ sind, ich bin Farhad.«
Paul warf Demirel einen prüfenden Blick zu.
»Wieso jetzt Fahrrad, hast du nicht gerade gesagt, du heißt Demirel?«
Farhad antwortete lachend: »Ja aber auch wir Türken haben einen Vor- und einen Nachnamen, also Farhad ist mein Vorname.«
Jetzt lachte auch Paul.
»Na ja gut, mit dem Namen würde ich mich zwar nicht aus der Garage trauen, aber weil man in dieser Gegend besser kein Fahrrad draußen stehen lässt, komm besser rein. Paul übrigens!«
Etwas verwirrt betrat Farhad die Wohnung und wurde von seinem Nachbarn aufgefordert, auf der Couch im Wohnzimmer Platz zu nehmen.
»Moment bin gleich wieder da.«
Nach ein paar Minuten kam Paul mit zwei Tassen Cappuccino zurück. Eine Tasse stellte er vor sich auf den Tisch und die andere hielt er seinem Gast entgegen, der sie ihm abnahm und sofort kurz daran nippte.
»Danke Paul, schmeckt sehr gut und ist sehr freundlich von dir«, dabei nickte er seinem Gastgeber zu.
»Nichts zu danken Farhad, aber nach der Tasse fliegst du erst mal wieder raus. Ich muss noch in der Firma anrufen und putzen muss ich auch noch.«
Wieder nickte der neue Nachbar.
»Ja, kein Thema, hab auch noch einiges zu tun.«
Man unterhielt sich noch etwa fünf Minuten über Belangloses und leerte dabei die Tassen. Danach wurde Farhad von Paul zur Tür gebracht und verabschiedet. Farhad umarmte Paul, was der sich nur sehr widerwillig gefallen ließ und während Paul die Wohnungstüre schloss, nahm Farhad die ersten Stufen der Treppe nach oben.
Das Telefonat mit dem Chef verlief wie gedacht, der freute sich noch darüber, dass Paul eine Woche Urlaub nahm und in der schlechten Auftragslage einige seiner vielen Urlaubstage aufbrauchte. Jetzt durfte er endlich mit seinem jedes Wochenende wiederkehrenden Putzmarathon beginnen. Die Wohnung putzte sich leider nicht von alleine und so rückte er dem Kalk in Waschbecken, Dusche und Toilette mit der chemischen Keule zu Leibe, wischte die Küche durch und war sehr froh darüber, dass ihn niemand beobachten konnte, als er mit dem Staubsauger zu »I Want to Break Free« zuerst durch sein Wohn- und dann durch das Schlafzimmer tanzte.
Irgendwann war alles getan, er hatte alles erledigt und nun also sieben Tage frei. Jeder Andere hätte sich wahrscheinlich darüber gefreut, aber ungeplante sieben Tage Freizeit, das war für einen Single und bekennenden Stubenhocker wie ihn eine sehr lange Zeit. Auf ihn warteten also knappe einhundertachtzig Stunden langweiligen Urlaub.
Sonntag, 17:40 Uhr.
Schon während er seine Putzutensilien im Schlafzimmer in die Nische zwischen Schrank und Wand räumte, kam ihm der Einfall, die ersten dieser Stunden mit dem Computer totzuschlagen. Direkt nach dem Putzen hatte er nicht wirklich große Lust auf einen Ego-Shooter, wollte Zunächsteinmal etwas entspannen und startete lieber ein ruhiges Strategiespiel, offline. So vergingen beim Burgenbau, Felder anlegen, Burgen abreißen und Felder verbrennen die nächsten hundertachtzig Minuten und auch die Lust am Spielen. Er beendete das Spiel, fuhr den Computer herunter, zog sich einen Pulli über, schlüpfte in seine Schuhe, nahm seine Jacke und den Schlüssel vom Haken und verließ seine Wohnung. Kaum im Treppenhaus dachte er schlagartig wieder an das, was ihm am Tag zuvor passiert sein musste, verdrängte diesen Gedanken schnellstmöglich und lief die paar Stufen hinunter zur Haustür, die kurz danach laut ins Schloss fiel.
Er wohnte schon in einer beschissenen Gegend. Hier stand Haus an Haus, es gab kein Grün, keinen Baum, einfach alles war hier grau in grau. Vom Haus weg, ging er links herum, dann etwa dreihundert Meter geradeaus und erreichte Wilmas Eckkneipe. Dort nahm er die zwei Stufen, drückte die Tür auf und betrat wortlos die Kneipe. Etwas anderes war es nicht und sollte es auch nicht sein. Kneipe passte, denn zu essen gab es hier nichts, zumindest hatte er hier noch nie jemanden essen sehen und auch eine Speisekarte schien es hier nicht zu geben. Hin und wieder, wenn ihm nichts anderes einfallen wollte, kam er hier her, setzte sich an die Bar, trank eins bis zehn Bier und ließ so den Abend ausklingen. Freunde hatte er hier nicht, denn keiner hatte hier Freunde. Nie waren hier mehr als fünf Gäste gleichzeitig anwesend und nie kamen hier mehrere Gäste zusammen an. Keiner wollte hier reden, keiner wollte Freundschaften schließen und keiner wollte dumm angesprochen werden.
Wilma stand hinter der Theke und zapfte. Wilma trug ein blaukariertes Hemd wie beinahe immer, sein Haarkranz um die Glatze stand genauso wirr in alle Richtungen ab wie sein Vollbart. Paul sah sich um, drei Personen verteilten sich an den Tischen, an der Theke saß heute noch keiner. Er rückte einen Barhocker leicht von den anderen weg und setzte sich. Wilma warf ihm einen kurzen Blick zu und fragte, obwohl er sich die Antwort auch selbst hätte geben können:
»Bier?«
Paul nickte, nahm sein Handy aus der Jackentasche und startete seinen Browser. Er klickte sich sinnfrei durch das Internet, besuchte die Homepages der bekannten Boulevardblätter, erweiterte dabei sein Repertoire an unnützem Halbwissen und sah nur kurz auf, als Wilma ohne ein Wort zu sagen, neben ihm auftauchte, das Bierglas abstellte und mit einer Selbstgedrehten zwischen den Lippen sein Lokal verließ. Nur wenige Sekunden später wurde links neben Paul der Barhocker bewegt und jemand setzte sich ungeniert neben ihn. Solch eine Dreistigkeit war ihm hier bisher nie untergekommen. Er sah provokativ nicht hoch, wollte nicht reagieren und tippte einfach weiter auf seinem Handy herum.
»Guten Abend Paul!«
Paul fiel vor Schreck beinahe vom Hocker, schaute nach links und sah in Farhads Gesicht.
»Na auch Langeweile?«
Farhad sprach in einer normalen Lautstärke und keiner der anderen Gäste reagierte. Paul war es dennoch unangenehm und er flüsterte zurück:
»Na ja, will nur noch was trinken.«
Farhad redete auch jetzt normal weiter: »Kommst du öfter hier her?«
Paul wurde noch leiser: »pscht, sei doch mal ruhig, was sollen die Leute denken!?«
Farhad sah Paul überrascht an und flüsterte nun auch: »Ok ich dachte, das hier wäre eine Gaststätte, werden hier Bücher verliehen oder ist jemand gestorben?«
Paul fühlte sich ertappt, grinste und sagte: »Nein ist ok, aber hier wird normal nicht geredet.«
Wilma trat derweil wieder hinter die Theke und zapfte weiter. Farhad brachte es fertig, seinen Sitznachbarn in eine kleine Unterhaltung zu verstricken. Der ungewohnte Wortwechsel tat Paul wirklich gut und er genoss diese Abwechslung. Drei Bier hatte er schon und sein Gesprächspartner rührte immer noch an seinem ersten Glas Tee. Hier gab es echt Tee, der Wahnsinn, das hätte Paul nicht vermutet. Wilma sah entweder wegen dem Tee oder der ungewohnten Lautstärke, hin und wieder beinahe vorwurfsvoll in ihre Richtung, sagte aber nichts. Als Paul den letzten Zug aus dem Glas genommen hatte und es leer vor sich auf der Theke abstellte, kam wieder die obligatorische Frage: »Noch eins?«, und Paul nickte. Farhad hielt sein Teeglas in der rechten Hand und legte die linke beim Aufstehen auf die Schulter seines Nachbarn.
»Setzen wir uns an einen Tisch?«
Paul folgte Farhad, nachdem er vom Wirt das nächste Bier überreicht bekommen hatte, an den Tisch in der hintersten Ecke des Lokals. Dort konnte man sich unterhalten, ohne andere Gäste zu stören. Man unterhielt sich tatsächlich, man unterhielt sich über Privates, wie sonst nur über Headset im Internet. Sie sprachen über die Gegend, über die Sturheit der Leute hier, über Autos, über Nachbarn und plötzlich über Frauen.
»Die kleine Blonde unten neben dir ist schon der Hammer oder?«
Paul stimmte nickend zu. Im Normalfall hätte er abgestritten die Blonde überhaupt je registriert zu haben, aber der Alkohol zeigte Wirkung.
»Ja ist sie, sie hat aber einen Macker und das ist ein echt grober Klotz.«
Farhad grinste. »Ja, ist mir aufgefallen aber ernsthaft, wäre die nichts für dich?«
»Hallo, ich sagte doch, sie hat einen Macker, das wird also nichts!«, sein Gegenüber gab sich mit dieser Aussage scheinbar nicht zufrieden.
»Hör auf, wenn man will, dann geht immer was, glaub mir!«
»Ja, klar, mach es mir vor!«
Farhad schüttelte den Kopf. »Ich will doch nichts von ihr, du willst doch. Aber ok, wenn du mir nicht glaubst, ich zeig dir, dass auch da etwas geht.«
Amüsiert sah ihn Paul an. »Wie willst du mir denn zeigen, dass da etwas möglich wäre?«
Sein neuer Nachbar sah ihn nun ernst an. »Also Paul du weißt, dass man vom Hof aus in eines ihrer Fenster sehen kann?«
»Ja, von der Treppe aus, man sieht aber nur einen kleinen Ausschnitt«, Paul hoffte, dass er sich damit nicht verraten hatte. Denn hin und wieder hatte er schon rauchend an der Treppe gestanden und gehofft seine Nachbarin in einer privaten Situation beobachten zu können. Farhad reagierte nicht, hatte den Satz nicht wirklich verstanden oder ihn einfach übergangen. Vielleicht war er auch froh, selbst nicht gefragt zu werden, wie ihm die Möglichkeit in die Wohnung der Blonden zu sehen, aufgefallen war.
»Gut, morgen Nachmittag um drei Uhr stehst du an der Treppe!«
Paul lachte innerlich, fragte sich, welche geheimen Zusätze Wilma in Farhads Tee gerührt hatte und stimmte seinem offensichtlich größenwahnsinnigen oder Teein-unverträglichen Nachbarn amüsiert zu.
»Ok, ich bin gespannt!«
Die beiden unterhielten sich noch einige Zeit weiter und verließen das Lokal kurz vor Mitternacht. Auch auf dem Heimweg ließ man die Unterhaltung nicht abreißen und Paul redete oder besser lallte, als hätte er heute ein ewig dauerndes, sich selbst auferlegtes, Schweigegelübde gebrochen und viel nachzuholen. Farhad kam kaum zu Wort, lächelte und nickte nur hin und wieder verständnisvoll. Beim Versuch die Haustür aufzuschließen scheiterte Paul kläglich und nachdem ihm einige Male seine Schlüssel aus der Hand gefallen waren, musste er sich von seinem neuen Freund helfen lassen. In leichter Rückenlage und von Farhad geschoben überwand er die Stufen, warf der Tür seiner Nachbarin einen sehnsüchtigen Blick zu, winkte ab und übergab seinem Nachbarn vorsorglich seine Schlüssel. Farhad öffnete nun auch Pauls Wohnungstür und man verabschiedete sich. Paul wankte ins Schlafzimmer, trat auf dem Bett sitzend seine Schuhe herunter, zog sich Jeans und Pulli aus, ließ sich zur Seite fallen, zog die Decke hoch und schlief sofort ein.
2. Contusio testis
Montag, 9:55 Uhr.
Der nächste Morgen begann, wie jeder Morgen begann, wenn Paul nicht zur Arbeit musste. Er stand auf, duschte, putzte sich die Zähne, nebelte sich mit reichlich Deo ein, bändigte seine Haare und zog sich langsam an. Danach schlürfte er genüsslich seinen ersten Cappuccino und war gerade dabei, seine Tasse an dem Automaten abzustellen, als plötzlich lautes Geschrei vom Hausgang in seine Küche drang. Das kam hier schon mal vor und störte ihn deshalb wenig.
»Hau einfach ab und komm diesmal bloß nicht wieder!«
Doch, das interessierte ihn jetzt sehr. Nachdem er genauer hingehört hatte und die Stimme seiner blonden Nachbarin zuordnen konnte, wurde seine Neugierde geweckt und so ging er näher an die Tür heran, um der Unterhaltung besser folgen zu können.
»Immer das Gleiche. Wochenende, Party und dann ne neue Tussi. Du schaffst nicht mal eine, willst aber gleich mehrere, verpiss dich einfach!«
»Ja mach ich auch, ich hab die ganze Zeit schon keinen Bock mehr auf dein Hausmütterchen-Gemache!«
Sehr schön, die Unterhaltung gefiel Paul und er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Leise und sehr langsam öffnete er die Wohnungstür einen Spalt, lugte hindurch und sah schräg gegenüber in den kleinen Flur der Nachbarswohnung. Zuerst war noch niemand zu sehen, dann betrat die Kleine den Flur und hielt eine Sporttasche in der Hand, die sie mit »Vergiss deinen Mist nicht!« vor die Tür in das Treppenhaus warf und die Tür zuknallte. Ihr Freund oder jetzt besser Ex-Freund lief die Stufen vor der Haustür nach oben, griff sich die Tasche und mit einem leisen »Was für eine blöde Kuh« drehte er sich herum und sah direkt durch den Spalt der leicht geöffneten Tür in Pauls Gesicht. Der stand da, mit einem leichten Grinsen auf den Lippen und war weder im Stande etwas zu sagen, noch die Tür einfach zu schließen. Zwei Schritte ging der »Ex« der Blonden auf Paul zu, streckte seinen Zeigefinger in dessen Richtung und drohte:
»Du hältst besser dein dummes Maul!«
Paul wurde wach, schlug die Tür zu und lehnte sich von innen mit dem Rücken dagegen. Auch jetzt grinste er noch vor sich hin. Ja, die Unterhaltung hatte ihm sehr, sehr gut gefallen. Die Haustüre wurde zugeschlagen und kurze Zeit darauf quietschten vor dem Haus Autoreifen.
»Super, den Lutscher hätten wir fürs Erste los«, dachte er, grinste bei diesem Gedanken und behielt diesen Gesichtsausdruck für die nächsten Minuten wie eingebrannt bei.
Musik, ja das war die richtige Zeit und die richtige Stimmung für eine Runde Kuschelrock und die CD durfte heute auch mal etwas lauter konsumiert werden. Er drückte die Starttaste, drehte den Bass etwas herunter und die Lautstärke hoch, so passte es. Paul ließ sich auf seine Couch fallen, legte sich zur Seite und genoss so die komplette Scheibe. Beinahe wäre er eingeschlafen, doch immer stärker werdendes Hungergefühl verhinderte das Wegdämmern. Aus dem Eisfach seines Kühlschrankes wühlte er zwei Fertigpizzen, entfernte die Folie, stellte den Backofen auf die richtige Temperatur ein und wartete einige Minuten. Sein Herd gab grünes Licht, die eingestellte Temperatur war erreicht und so schob er die Pizzen hinein. Er mochte keine knusprige Pizza, labbrig sollte sie sein und mehr als acht Minuten brauchte es dazu nicht. Diese Zeit nutzte er, um kurz über die Hängeschränke und über die Oberflächen der Spüle und des Herdes zu wischen. Das Backblech wurde herausgezogen, oben auf die Herdplatten gestellt, die erste Pizza auf den Teller gezogen und zusammengefaltet. Paul holte sich Messer und Gabel aus der Besteckschublade und ließ danach die Küche hinter sich.
Der Couchtisch war beim Essen eher unpraktisch, aber fernsehen zur Pizza war schon wichtig, nicht weil es vielleicht etwas Wichtiges zu sehen gegeben hätte, Paul hatte einfach das Gefühl nicht ganz alleine zu essen, wenn die Glotze lief. Er war kein schneller Esser und der Dokumentarfilm über die Wasserknappheit in Vegas verlangsamte seine Nahrungsaufnahme noch weiter. Zeitnot hatte er heute nicht zu befürchten, es lag ja außer der mit Farhad besprochenen Aktion nichts weiter an. Also ließ er sich auch beim Spülen so viel Zeit, dass er kurz vor fünfzehn Uhr das Backblech und den Teller gesäubert und weggeräumt hatte.
Die Spannung stieg, ob es Farhad tatsächlich in die Wohnung von Sabine schaffen würde. Spannung ja, einerseits. Auf der anderen Seite kam bei genauerem Nachdenken schon irgendwie Eifersucht auf. Paul verließ die Wohnung und betrat über die Tür zwischen der Wohnungstür von Sabine und seiner den Hof. Von dort konnte er schräg auf das Fenster der Blondine sehen. Er öffnete sein Zigarettenpäckchen, zog eine seiner Mentholzigaretten heraus und zündete sie an. Passieren würde sowieso nichts, dachte er, oder hoffte er beinahe. Aber würde er nicht hier stehen und warten, könnte er Farhad auch nicht mit seinem Versagen aufziehen. Also musste er abwarten.
Verdammt!
Paul hatte sich am Rauch verschluckt. Das gab es nicht, hatte er echt Farhads Gesicht im Fenster der blonden Nachbarin gesehen? Er ging einen Schritt nach rechts, um besser sehen zu können. Ja, tatsächlich Farhad stand oberkörperfrei hinter dem Fenster und winkte Paul lachend zu. Er gestikulierte und gab Paul so zu verstehen, dass er sich auf die Mülltonne direkt unter dem Fenster stellen sollte. Paul schnickte die Zigarette auf den Boden und lief auf die Tonnen zu. Die Biotonne stand offen. Er wollte das Ding nie wirklich berühren, also auch heute nicht. Die graue Restmülltonne daneben bot sich an und so stieg er langsam, indem er sich mit der rechten Hand am Fensterbrett festkrallte und mit der linken auf der Tonne abstützte, hinauf. Jetzt stand er so, dass er von unten über das Fensterbrett in das Zimmer sehen konnte. Aber die Körperhaltung, die er dabei einnehmen musste, war mehr als ungemütlich. Wenn er sich aufstellte, konnte er mit eingezogenem Bauch auch seitlich in das Zimmer sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Das war deutlich gemütlicher. Die Biotonne war bis zur Hälfte gefüllt. Bioabfall, dazwischen grüne Tüten, Hühnerteile, Eier und auch Dosen. Das war in diesem Haus nicht weiter außergewöhnlich. Sie stank zum Himmel.
Er bewegte seinen Kopf zur Seite und sah mit dem rechten Auge zuerst in das Zimmer. Unfassbar, Farhad stand halbnackt, nur mit Boxershorts bekleidet, vor einer ungewöhnlichen Liege. Die Nachbarin war nicht dabei und deshalb wurde Paul mutiger. Ohne Deckung stellte er sich jetzt auf die Tonne. Farhad griff seine Klamotten, zog sich an und verließ das Zimmer, aber nicht ohne sich noch mal umzudrehen und Paul zuzuzwinkern. Mit offenem Mund stand der auf seiner Tonne. Der Kerl hatte es wirklich hinbekommen. Paul war in Gedanken und ärgerte sich, dass er wohl ein paar Minuten zu spät oder Farhad ein paar Minuten zu früh gekommen war. Auf der anderen Seite war er sich beinahe sicher, dass er nicht alles hätte sehen wollen.
In diesem Moment betrat Sabine den Raum. Sie griff nach einem Handtuch und schüttelte es aus und wirklich alles, nicht nur das Handtuch, wackelte. Ein Traum, Wahnsinn, diese Frau! Sie wollte das Handtuch in den Wäschekorb werfen, traf aber nicht, stieg darüber weg und beugte sich beim Aufheben in Pauls Richtung. Ihre Brüste fielen dabei beinahe aus dem engen Shirt. Ohne Vorwarnung hob sie ihren Kopf und war im Begriff zum Fenster zu sehen. Geistesgegenwärtig ging er in Deckung, dabei drehte er seinen Körper um hundertachtzig Grad und presste seinen Rücken an die Hauswand. Das war gerade noch mal gut gegangen, eine Sekunde später und ...
Paul merkte, dass die Tonne unter ihm langsam nach vorne kippen wollte, deshalb presste er sich noch stärker an die Wand und versuchte, die Tonne mit den Füßen zu halten. Diese gab nun komplett nach und stürzte nach vorne. Er riss sein rechtes Bein zur Seite, um die andere Tonne zu erreichen, und merkte beinahe im selben Moment, dass diese Idee nicht die Beste war. Im freien Fall ging es abwärts. Paul ärgerte sich beim Fallen darüber, dass er gleich mit den Schuhen im Bioabfall stehen würde, stand aber nicht, denn die stinkende Pampe gab einfach nach und im nächsten Moment schlug er auf. Mit voller Wucht schlug er mit seinem linken Hoden auf die Kante der Tonne. Weil sein linker Fuß noch nicht am Boden war, kippte er mit der Tonne nach links weg. Reflexartig schützte er mit seinen Armen den Kopf und schlug mit den Rippen auf die graue Tonne. Ein einziger, lauter Schrei und im nächsten Moment Stille, ihm blieb die Luft weg. Ihm traten Tränen in die Augen und er jammerte lautlos, unterbrochen nur von lautem gepresstem Ausatmen. So lag er eine gefühlte Ewigkeit zwischen den Tonnen, zwischen Dosen und aufgeplatzten Mülltüten.
»Was ist passiert, soll ich einen Arzt holen?«
Sabine hatte ihn angesprochen. Er sah nach oben und durch den Tränenvorhang konnte er seine Nachbarin erkennen, die sich über ihn beugte und ihn ansprach:
»Um Gottes willen, was ist passiert? Geht es?«
Sie hatte ihr Handy schon in der Hand und wählte wohl gerade die Nummer der Notrufzentrale. Ein paar andere Nachbarn liefen zusammen, einer befreite Pauls Bein aus der Biotonne, ein anderer kam mit einem Sofakissen, hob den Kopf des Verunfallten vorsichtig an und packte ihm das Kissen darunter. Jede Bewegung schmerzte unerträglich, er konnte noch nicht sprechen und noch nicht frei atmen. Ihm war heiß, unerträglich heiß und der Schmerz war überall im Körper. Die ganze Zeit streichelte Sabine seinen Arm und redete auf ihn ein:
»Es ist alles gut, der Arzt kommt sofort ...!«
Zwei Sanitäter und eine Notärztin rannten die Stufen zum Hof hinunter und versorgten ihn so weit, dass sie ihn auf die Bahre legen und abtransportieren konnten. Im Rettungswagen hob ihn einer der beiden unter dem Rücken an, der andere zog ihm vorsichtig die Hose herunter. Die Frage der Notärztin »Soll ihre Frau mitfahren?«, bekam er nur am Rande mit und sein »Ahhhhh!« beim Ausziehen der Hose musste sie wohl als ein »Jahhh!« verstanden haben. Die Ärztin verließ den Wagen kurz und kam wirklich mit der blonden Nachbarin zurück. Die Sanis bestiegen die Fahrerkabine und die Fahrt ins Krankenhaus begann. Jede Bodenwelle, jede Spurrille bereiteten unsägliche Schmerzen. So hatte er sich das immer gewünscht, mit runtergelassener Hose und zusammen mit zwei Frauen, eine davon die Nachbarin, in einem Krankenwagen. Peinlicher hätte es nicht sein können.
»Ich hebe ihn etwas an, würden sie ihrem Mann das Shirt hochziehen?«
Während die Medizinerin seine Pobacken fasste und ihn leicht anhob, schob ihm seine Nachbarin das Shirt bis über die Brust. Danach begann das Abtasten der Rippen. Die Schmerzen waren bisher schon heftig gewesen, aber die Untersuchung verstärkten sie noch deutlich und Paul jammerte bei jeder Berührung wie ein Säugling. Nachdem die Notärztin den Oberkörper gecheckt hatte, tastete sie nun seine Hoden. Das kam einer Folter gleich, unerträgliche Schmerzen zuckten durch seinen ganzen Körper. Sabine hatte Mühe ihn auf der Bahre zu halten. Er jammerte nicht mal mehr, zog Grimassen, zuckte und zitterte am ganzen Körper. Nachdem die im wahrsten Sinne des Wortes »grobe« Untersuchung beendet war, packte die Ärztin jeweils einen Kühlbeutel unter und einen über den Hodensack. Paul verspürte zunächst nur Druck, keine Linderung, fand aber langsam seine Stimme wieder. Immer wieder schrie und weinte er bei jeder Bewegung, die vom Fahrzeug auf ihn übertragen wurde, vor Schmerzen.
»Contusio testis, würde ich diagnostizieren. Ein Bruch der Hoden oder der Rippen ist derzeit nicht feststellbar. Alles Weitere wird die Ultraschalluntersuchung in der Klinik zeigen.«
Die Spritze, die er in den Arm bekam, nötigte ihm keine Reaktion ab, denn sie fiel nicht weiter ins Gewicht. Angekommen in der Notfallstraße des Klinikums wurde er von der Trage auf ein Bett gehoben und im Flur liegen gelassen. Dass Sabine die ganze Zeit seine Hand hielt, hätte er zu jedem anderen Anlass genossen. Die Schmerzen hatten durch das Eis so weit nachgelassen, dass sie erträglich wurden. Die Notärztin sprach mit einem anderen Weißkittel und kam noch mal zu Paul zurück. Mit einem Lächeln und einem letzten Blick auf seine immer noch freigelegten Hoden verabschiedete sie sich und verließ die Notfallstraße.
»Sag mal, was war das, was hast du da gemacht?«, seine hübsche Nachbarin sah ihn, als sie diese Frage stellte, beinahe amüsiert an.
Paul war trotz der Schmerzen auf diese Frage vorbereitet und antwortete prompt: »Ich habe mich in die Tonne gestellt, um Platz zu schaffen. Sie war ja wieder voll bis oben hin, dabei hab ich das Gleichgewicht verloren und es ging abwärts, na ja ...«
»Ok ...!«, ein Lächeln konnte sich die Blondine nicht verkneifen. »Aber es geht dir ja schon besser, da wird nichts kaputt sein, denke ich mal.«
»Wenn meine Stimme noch keine Oktave höher klingt, gehe ich davon aus, dass alles noch da ist, wo es hingehört.«
Sabine lachte ihn an. »Ja, ich habe alles gesehen und es ist noch alles da. Vielleicht etwas farbenfroher als normal, aber alles ist, wo es hingehört.«
Zu diesem Satz wollte ihm nun nichts mehr einfallen.
»Du hast ja echt Glück in letzter Zeit, wie? Zuerst bekommst du von Peter im Hausgang ein paar verpasst und jetzt das.«
»Wie, Peter hat mir ein paar verpasst? Wer ist Peter und vor allem, warum hat er mir ein paar, äh, verpasst?«
»Egal, wenn du dich nicht daran erinnerst, dann ist das vielleicht auch besser so!«
Ein Arzt trat an das Bett heran, stellte sich kurz vor und schob ihn in das nächste freie Untersuchungszimmer. Sabine blieb währenddessen im Flur sitzen. Die Schmerzen, die er gerade etwas vergessen hatte, waren beim Abtasten und bei der Ultraschalluntersuchung wieder voll da.
»Also junger Mann, da hatten wir noch mal Glück, es ist tatsächlich nichts gebrochen und ich bestätige die Vermutung der Kollegin. Sie haben sich eine Hodenprellung zugezogen. Die leichte Rippenprellung ist dagegen zu vernachlässigen. Wir werden sie bis morgen hierbehalten und dann dürfen sie auch wieder nachhause. Die betroffenen Stellen werden gekühlt und das Ganze mit einer Hodenbank entlastet.«
Der Arzt verabschiedete sich und Paul wurde von einem Pfleger auf Station gebracht. Dort angekommen, verabschiedete sich Sabine:
»Ich nehme mir ein Taxi, wir sehen uns dann morgen.«
»Danke Sabine, komm gut heim, ich melde mich, wenn ich hier raus bin!«, rief Paul ihr hinterher. Er hatte Glück, das ihm zugedachte Zweibettzimmer war noch nicht belegt, das Telefon hatte er nicht freischalten lassen und zu lesen hatte er logischerweise nichts dabei. Also knipste er am Nachttisch das Licht aus, drehte sich um und schlief trotz der Schmerzen schnell ein.
»Hey, hey Paul!«
Paul schreckte hoch und sah direkt in Farhads Gesicht.
»Paul, was machst du für Sachen? Habe vorhin Sabine getroffen und sie hat mir gesagt, dass du hier oben bist und was passiert ist.«
»Ja das war nicht die beste Idee von mir, euch beobachten zu wollen. Aber wenn ich darüber nachdenke, muss ich sagen, hat schon was gebracht. Sabine hat mich ins Krankenhaus begleitet und war die ganze Zeit bei mir.«
»Ja dann bleib dran, da geht was! Wir müssen nur gucken, dass wir ihren Lover auch wirklich dauerhaft loswerden.«
Paul sah Farhad prüfend an. »Und, was ist mit dir und Sabine?«
Der lachte. »Ach man vergiss es, das war nicht annähernd so, wie du denkst. Da war nichts, sprich sie am besten gar nicht darauf an und alles ist gut!«
»Ok, dann werde ich nicht mehr nachfragen Farhad, wenn du mir sagst, da wäre nichts gewesen, dann vertraue ich dir mal, wenn es auch ganz anders ausgesehen hat«, dabei zwinkerte er Farhad zu.
Farhad legte den Zeigefinger auf seine Lippen: »Pscht... unwichtig. Mach, dass du hier wieder rauskommst und gib Gas! Ich mach mich wieder los.«
»Gute Nacht mein Freund, das vergesse ich dir nicht!«
»Gute Nacht!«
Farhad winkte ihm noch kurz zu und schloss die Tür hinter sich. Paul schlief sehr schnell wieder ein und hatte die schlimmsten Träume. Er träumte davon, im Hausgang zusammengeschlagen worden zu sein, er träumte von den heißesten Sexszenen, in denen aber nicht er, sondern Farhad und Sabine die Hauptrollen spielten. Er lag in diesem Traum breitbeinig in einem Krankenhemd neben den beiden auf dem Bett und sein überdimensionales Gemächt lag auf einer riesigen Hodenbank. Sabine deutete auf ihn und lachte, während sie sich dem Liebesspiel mit Farhad hingab. Hin und wieder tauchte auch dieser Peter auf. Anstatt aber auf die beiden Liebenden zu reagieren, bedrohte und beschimpfte er Paul, verschwand kurz aus dem Zimmer, kam zurück und begann von vorne. Real war gar kein Ausdruck, dieser Traum war grausam real und wiederholte sich immer und immer wieder. Er selbst konnte nicht reagieren, lag nur stumm und kopfschüttelnd, wie gelähmt da. Peter tauchte wieder auf und schrie ihn an:
»Halt bloß dein blödes Maul!«
Und plötzlich konnte Paul reagieren. Er drückte seinen Oberkörper hoch und schrie Peter ins Gesicht: »Deine Freundin treibt es mit Farhad, was willst du von mir!«
Schweißgebadet saß er auf seinem Krankenbett, einige junge Ärztinnen standen um ihn herum und direkt vor ihm tauchte das Gesicht des Arztes auf, der ihn gestern am frühen Abend untersucht hatte. Der zeigte seinen lächelnden Schülerinnen Pauls Verletzungen und reagierte sonst nicht. Danach erklärte er seinem Patienten freundlich, dass dieser nach dem Frühstück und der Visite des Stationsarztes entlassen werden würde. Beim Verlassen des Zimmers drehte er sich noch mal herum und sagte:
»Sagen sie Farhad, er soll sich beeilen, ich habe jetzt Feierabend!«
3. Das letzte Hemd
Dienstag, 8:40 Uhr.
Paul frühstückte und wartete auf die Visite, sprach kurz mit dem Arzt und bekam die Empfehlung, nach einer gewissen Zeit die Hoden noch einmal untersuchen zu lassen. Die Hodenbank durfte er behalten und sollte sie auch zuhause noch einige Tage anwenden. Dann ließ er sich ein Taxi bestellen und steckte sich vor der Klinik die erste Zigarette seit dem Unfall an. Laufen und Stehen, das war so weit ok, aber das Hinsetzen im Taxi war eine Tortur. Das Gerede des Taxifahrers über Hämorriden, innen und außen, ließ er über sich ergehen, denn über den wahren Grund seiner Gangart und der Probleme beim Sitzen wollte er mit einem Fremden nicht reden.
Paul schlich mehr oder weniger ins Haus, schloss seine Wohnungstür auf und ging zuerst ins Schlafzimmer. Den ganzen Tag verbrachte er unter der Wirkung von Schmerztabletten im Bett und den folgenden, ohne Schmerzmittel, auf der Couch. Keiner störte. Wahrscheinlich ging Sabine davon aus, dass er sich nicht bewegen wollte oder sie hatte einfach kein Interesse mehr an ihm. Damit wollte er sich aber jetzt nicht beschäftigen. Es half ja alles nichts, er musste warten, bis er wieder einigermaßen gehen konnte.
Donnerstag, 9:10 Uhr.
Er genoss das Duschen, wobei er den Genitalbereich nach der ersten Berührung dann doch lieber aussparte. Nach dem Abtrocknen, bei dem er nichts aussparen konnte und was deshalb viel länger dauerte als normal, besprühte er sich großzügig mit einem Deo und zog sich an. Das Gehen fiel leichter als am Tag zuvor, so war der Weg zum Kaffeeautomaten erträglich. Er wollte sich gerade mit einer Tasse seines Lieblingsheißgetränkes auf der Couch niederlassen, als das Telefon klingelte. Paul wusste sofort, wer da etwas von ihm wollte. Er wurde nur von drei Personen angerufen. Jeden Monat einmal von seiner Mutter, jeden zweiten Monat von seinem Vater und einmal im Jahr von seiner Schwester. Der letzte Anruf lag etwa einen Monat zurück, Paul nahm also den Hörer ab und meldete sich mit:
»Ja Mama, was gibt’s?«
»Hallo, hier ist deine Mutter.«
Paul gab keine Antwort, er wartete immer, bis sie zum Punkt kam.
»Na, was macht die Arbeit?«
»Die erledigt sich nicht von alleine, Mama.«
Kurzes Schweigen.
»Ich wollte nur mal hören, was du so machst.«
Paul lief in die Küche, legte sein Telefon auf die Ablage neben dem Spülbecken und begann die erste seiner beiden Tassen zu spülen.
»Paul! Junge! Bist du noch da?«
»Ja Mama, hast du gehört, was ich so mache?«
»Nein!«
»Dann hör doch noch mal zu.«
Paul spülte jetzt auch die zweite Tasse.
»Paul was machst du da, spülst du Geschirr?«
»Ja Mutter, du hast ja echt gehört, was ich so mache. War sonst noch was?«
»Mein Sohn, du bist unmöglich!«, Paul antwortete nicht. »Ich wollte dich fragen, ob du am Wochenende Zeit hättest, um mit mir zu Gisela zu fahren?«
Gisela war Pauls Schwester und für ihn beinahe so etwas wie ein rotes Tuch. Hatte sie Probleme, egal ob mit den Finanzen oder dem Partner, drohte sie mit Selbstmord. Etwa tausend Suizidversuche hatte sie unbeschadet und ohne Kratzer überlebt. Sie war ein Lemming, ein Phänomen, ein Überlebenskünstler. Andere wurden überfahren, starben an den Nebenwirkungen von Hustensaft, starben beim Fischessen an Gräten. Flugzeuge fielen auf Häuser und niemand überlebte, Züge entgleisten – wie Pauls Gesichtszüge, wenn er den Namen »Gisela« hörte. Gisela überlebte alles.
»Was ist passiert, hat sie an einer Neun-Volt-Batterie geleckt oder wollte sie sich mit einer Überdosis Globuli ins Nirwana schießen?«
»Wie kann man nur so sein, Gisela ist deine Schwester. Sie fühlt sich eben oft wie das vierte Rad am Wagen.«
»Ja Mutter so geht es vielen, die ein Rad abhaben!«
»Ach Paul du weißt doch, was ich meine«, nein Paul wusste es nicht und selbst nach siebenundzwanzig Jahren, die er seine Mutter kannte, war ihm nicht klar, ob sie nun mit purer Absicht alle Redewendungen verdrehte und mischte oder ob sie in der Sache ein Problem mit dem Gedächtnis hatte.
»Würdest du mir bitte jetzt sagen, welches Problem es mit Gisela wieder gibt?«, fragte er genervt. Und seine Mutter antwortete nach längerer Überlegung:
»Es ist so, dass wir ihr beim Umziehen helfen müssen. Ihr fehlt das Geld, um das Zimmer halten zu können. Dein Vater macht ja einen auf Pikkolo und hat nur noch seine Weiber im Kopf. Der kann also angeblich nicht helfen.«
»Warum machst du dich über die Größe von Papa lustig?«
Resi Meier schien verdattert: »Wie, warum die Größe? Egal, du weißt, was ich meine!«
Paul verkniff sich jedes weitere Wort über seinen Vater, denn seit der Scheidung ließ seine Mutter kein gutes Haar mehr an ihm und hätte er jetzt etwas gesagt, würde es das Telefonat unnötig in die Länge ziehen. Deshalb wollte er schnell zum Punkt kommen und stellte die alles entscheidende Frage:
»Wie viel fehlt ihr denn?«
Pauls Mutter setzte einen dramaturgischen Unterton auf: »Sie ist mit siebenhundert Euro im Rückstand. Da arbeitet man sein ganzes Leben, und wenn man krank ist, bekommt man gerade das Nötigste und kommt nicht mehr über die Runden!«
Gisela war dreiunddreißig und seit knapp zehn Jahren in Frührente. Ihre psychischen Probleme hatten ihr bisher den Lebensunterhalt gesichert. Paul wollte das Gespräch abkürzen und fragte:
»Wann kommst du und holst das Geld?«
»Siehst du, ich hab Gisela gleich gesagt, dass sie sich auf ihren Bruder immer verlassen kann«, antwortete seine Mutter.
»Wie lange hab ich dann Ruhe?«
»Paul!«, die Stimme seiner Mutter klang genervt.
Er wusste, dass es keinen Sinn hatte sich lange zu wehren und sagte: »Ja ist gut, vergiss es, komm einfach vorbei und hol es ab!«
»Sei doch froh, dass du helfen kannst, du bist alleine, verdienst gut und vom letzten Hemd kannst du dir auch nichts mehr kaufen.«
Sie hatte es wieder getan, das letzte Hemd hat ... ach vergiss es ...!
»Ich leg auf und geh eben zur Bank.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, beendete er das Gespräch und schob das Telefon in die Station zurück. Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen, er hätte um die siebenhundert Euro weinen können, aber er wusste, dass er keine Chance hatte. Er hatte letztes Jahr versucht, hart zu bleiben und seiner Schwester wirklich beim Umzug geholfen. Er hatte ein paar Taschen in sein Auto getragen, seine Schwester und seine Mutter waren eingestiegen und dirigierten ihn gemeinsam zu Giselas angeblich neuer Bleibe. Bei ihm zuhause angekommen zahlte er fünfhundert Euro und war mit dem Schrecken davongekommen. Bei der bloßen Vorstellung, mit Gisela die Wohnung teilen zu müssen, kamen sogar ihm Selbstmordgedanken.
Er stieg also in sein Auto, hielt vor der Bank im Halteverbot, lief breitbeinig und abgehackt, mit verzerrtem Gesicht an den Automaten, bekam sein Geld und brauchte wieder einige Zeit, um seinen Wagen zu erreichen. Ein anderer war schneller gewesen und der hatte ihm einen netten Gruß hinterlassen. Fünfzehn Euro, für nichts und wiedernichts. Verdammt, da arbeitete man sein ganzes Leben, und wenn man mal krank war...
Er steckte den Strafzettel ein, quälte sich auf den Fahrersitz und war nicht ganz zwei Minuten später wieder auf seinem Parkplatz. Vor dem Haus standen Gisela und seine Mutter, sie winkten ihm zu. Es war ihm klar, dass er sie niemals einfach so abwimmeln konnte. Also lud er die beiden Grazien auf einen Cappuccino ein. Gisela jammert ihm wie gewohnt eine halbe Stunde die Ohren voll und seine Mutter hielt ihr dabei die Hand und nickte dazu. Gisela konnte einem schon leidtun, wenn man sie nicht kannte. Sie setzte ihren Hundeblick auf und sagte leise und monoton:
»Meine Nerven sind einfach nicht die Besten, aber seit ich diese Tabletten habe, geht es mir etwas besser und sie schmecken gar nicht schlecht, haben was Schokoladiges«, danach atmete sie zweimal tief durch und sprach weiter: »Was ist eigentlich mit deinem Gesicht Paul und warum läufst du so komisch? Egal, wir werden alle nicht jünger, gell.«
Gisela holte ein Pillendöschen aus ihrer Handtasche und stellte es auf den Tisch. »Die beruhigen mich.«
Sie öffnete die Dose und griff sich daraus eine Tablette. Paul kämpfte, um nicht zu lachen, diese Tabletten sahen aus wie ganz normale Schokobonbons. Gisela lutschte ihr Medikament und wirkte von einer auf die andere Sekunde viel ruhiger. Das Geld, das sie nun von ihrem Bruder überreicht bekam, ließ sie noch ruhiger werden, so dass sie müde wurde und sich verabschiedete. Gefolgt von ihrer Mutter verließ sie Pauls Wohnung.
Oft hatte er sich diese Fragen schon gestellt und auch jetzt, nachdem er die Tür endlich schließen konnte, kamen sie ihm wieder in den Sinn. Warum war er kein Einzelkind oder warum durfte er nicht wie viele Andere in einem Kinderheim groß werden? Warum musste seine Mutter schon mit achtzehn das erste Kind bekommen und vor allem, warum wurde ihr der Segen der Geburtenkontrolle so spät bewusst? Er atmete dreimal tief durch, ging zurück ins Wohnzimmer, um sich kurz auf der Couch niederzulassen.
Bereits nach kürzester Zeit kam in ihm die Langeweile hoch, denn er hatte einfach in der letzten Zeit zu viel gesessen und zu wenig getan. Paul überlegte, stand auf und machte sich auf den Weg zum Supermarkt. Gerne wäre er hin und wieder zu Fuß einkaufen gegangen, aber hier in seiner Gegend gab es keinen Laden. So blieb ihm nichts anderes übrig, als zu fahren. Mit seiner Verletzung war es ohnehin unmöglich länger zu gehen. Die dreißig Meter von seinem Golf zum Eingang des Supermarktes waren schon beinahe unerträglich. Gestützt auf den Einkaufswagen schlurfte er breitbeinig durch den Markt. Die Menschen, die hier wie wild um die Regale rannten, warfen ihm mitleidige, teilweise angewiderte Blicke zu. Einige tuschelten miteinander und hatten auch kein Problem damit, mit dem Finger auf ihn zu zeigen. Was sollte es, er konnte unmöglich jedem seinen Unfall schildern und wenn er auch gekonnt hätte, hätte er es nicht getan. Das Getuschel wäre bestimmt augenblicklich einem Lachen gewichen. Also kümmerte er sich nicht weiter darum.
4. Rache
Er kaufte eine Schachtel Pralinen und einen Strauß Blumen, Cappuccino und einige Süßigkeiten nahm er auch noch mit. Wieder zuhause räumte er Cappuccino und Süßigkeiten weg, klemmte sich die Pralinen unter den linken Arm und nahm den Blumenstrauß in die rechte Hand. Seine Wohnungstür ließ er offen und klingelte nebenan bei Sabine. Sabine schob die Tür einen Spalt weit auf und sah Paul gestresst an.
»Du bist es. Sorry, kannst du vielleicht in einer Stunde wieder kommen?«
Paul wollte gerade antworten, als die Tür ganz aufgezogen wurde und Sabines Ex in der Tür stand.
»Ach so, da ist schon der Neue?«
Paul bekam es leicht mit der Angst zu tun und antwortete zögerlich: »Ich bin nicht der Neue. Ich wollte mich nur bei Sabine für gestern bedanken.«
Der Ex sah ihn grinsend an, kam näher und flüsterte ihm zu: »Ok, ihr hattet Spaß gestern!? Kerl, wenn ich nicht so froh wäre, dass ich die Alte los bin, hättest du gleich den nächsten Schuhabdruck im Gesicht!«
Jetzt mischte sich Sabine ein: »Lass es einfach! Pack deine sieben Sachen und verpiss dich endlich und ob das mein Neuer ist, geht dich gar nichts an!«
»Leute, lasst das bitte, ich komme später wieder«, Paul wollte nicht zwischen die Fronten geraten und den Wink mit dem Schuhabdruck hatte er sehr wohl verstanden. Sabine wollte ihn aber scheinbar nicht wirklich davonkommen lassen:
»Nein, von mir aus kannst du jetzt ruhig rein kommen, der ist gleich draußen.«
Paul schüttelte den Kopf. »Nein, lass mal. Ich komm später nochmal! Ich hab damit nichts zu tun und will mir nicht den schwarzen Peter zuschieben lassen.«
Sabines Ex griff Paul am Kragen und raunzte ihn spuckend an: »Du glaubst, du wärst lustig? Hau bloß ab, du kleines rassistisches Arschloch!«, damit stieß er seinen vermeintlichen Nebenbuhler zurück und verschwand in Sabines Wohnung. Paul drehte sich ab und ging. Er drückte von innen seine Türe zu und war heilfroh unbeschadet aus dieser Nummer gekommen zu sein.
»Das war ja sehr erfolgreich!«
»Farhad!?«, ungläubig rief er in sein Wohnzimmer.
»Ja hier!«
Paul ging in seine Stube, wo ihn Farhad mit einem genervten Gesichtsausdruck und kopfschüttelnd erwartete.
»Wie bist du hier rein gekommen?«, fragte er seinen Nachbarn.
»Deine Tür stand offen, vergessen!? Ich wollte mich draußen nicht einmischen und hab gedacht, wir reden besser hier.«
»Was sollen wir reden? Alles ist gut, es ist ja nichts passiert«, dabei legte Paul Pralinen und Blumen auf den Tisch.
»Eben! Zeig mal Eier mein Freund! Du kannst dir doch nicht immer alles gefallen lassen!«
»Ich hab mir nichts gefallen lassen und wer will momentan meine Eier sehen? Glaub mir! In den letzten Tagen haben die viel zu viele gesehen.«
Farhad lachte Paul an. »Du weißt genau, was ich meine. Du willst bei Sabine punkten und lässt dich von dem Typen vor ihr beleidigen. Das wird so nichts!«
»Was soll ich deiner Meinung nach tun? Soll ich mich vor ihr zusammenschlagen lassen?«
»Paul strenge dich doch mal an! Benutze deinen Kopf. Es wird Zeit sich auch mal zu rächen und ich habe dazu die passende Idee. Vor dem Haus steht provozierend im Halteverbot ein wunderschönes neues Cabrio, offen.«
»Ja und?«, Paul verstand nur Bahnhof.
»Wem wird das gehören?«, Farhad schmunzelte vielsagend.
»Komm doch mal zum Punkt Farhad!«
»Na ich meine, im Hof gab es durch die umgeworfene Biotonne schon eine Riesensauerei oder? Wie würde sowas erst in einem Auto aussehen?«
Paul begann zu verstehen, wollte sich vergewissern und fragte vorsichtshalber nach: »Das meinst du nicht wirklich, oder doch?«
Sein Freund lachte ihn an und bestätigte Pauls Vermutung: »Doch das meine ich! Greif dir einen Eimer und los geht’s!«
Farhad ging in die Offensive, stand auf, öffnete die Tür und war im nächsten Moment in Richtung Hof verschwunden. Paul holte seinen leeren Biomülleimer aus dem Spülschrank hervor und folgte Farhad unentschlossen. Pauls neuer Nachbar führte weiterhin Regie:
»Mach den Eimer schön voll und verteile alles auf den Polstern, ein Traum für jeden Autonarren.«
In Paul kamen wirklich Rachegedanken auf. Er tauchte den Eimer in die wie immer offene Biotonne und bis zum Rand gefüllt zog er ihn wieder heraus. Was für ein Gestank, was für ein Anblick. Ja, jetzt war er entschlossen das durchzuziehen, der Kerl hatte es verdient.
»Ich schaue, dass keiner im Treppenhaus ist, dann rennst du raus und tankst den Wagen schön voll!«
Paul schlich hinter seinem Komplizen her und als er sich mit dem Eimer an ihm nach draußen vorbeidrückte, klopfte der ihm auf die Schulter.
»Ich bleibe hier und schieb Wache«, damit drückte Farhad die Tür leise zu. Kein Mensch war zu sehen. Paul beeilte sich und verteilte den Inhalt des Eimers über Vorder- und Rücksitze. Mit dem Boden des Eimers massierte er den Dreck sorgsam in die Sitze und betrachtete danach stolz sein Werk. Dem Typen hatte er es mal so richtig besorgt. Jetzt aber nichts wie weg!
Schnellen Schrittes bewegte er sich auf die Haustüre zu, und wurde von Farhads »Weg, weg, hau ab!« aufgeschreckt. Paul drückte den leeren Eimer vor sich auf den Boden und tat einige große, schmerzhafte Schritte vom Haus weg zu den Parkplätzen und verbarg sich hinter seinem Golf. Keine Sekunde zu früh!
Peter stürmte aus dem Haus, stolperte beim ersten Schritt über den Eimer, konnte sich gerade noch halten, langte nach dem Dreckkübel und wollte ihn zur Seite werfen. Dazu kam er aber nicht mehr, denn die Haustüre wurde erneut aufgerissen und die vier Mitglieder der Familie D’Violenza, die im ersten Obergeschoss wohnten, traten nach und nach heraus. Mutter D’Violenza ging energisch vorneweg, im Arm hielt sie einen leeren Einkaufskorb. Ihr Mann und die beiden erwachsenen Söhne folgten ihr. Die männlichen Familienmitglieder unterhielten sich lautstark und gestenreich, bis sie vom Schrei der Mutter, die schon am Cabrio angekommen war, unterbrochen wurden. Alle rannten auf den Wagen zu und sahen geschockt in den Innenraum. Jetzt wurde es richtig laut.
Sie stießen italienische Todesflüche und Trauergesänge aus, sie ruderten mit ihren Armen, drohten mit den Fäusten und traten sogar in alle Richtungen aus. Jede Bewegung passte zur Melodie ihres Geschreis, so dass man hätte glauben können, sie würden eine Operette aufführen. Die Mutter fuhr plötzlich herum und fixierte mit blitzenden Augen Sabines Exfreund. Der hatte sich nicht von der Szene lösen können und sich das Schauspiel beinahe abwesend betrachtet, jetzt wurde er schlagartig bleich, hielt dabei immer noch den Eimer in den Händen, den er jetzt langsam von sich wegdrückte und fallenließ. Mit wütenden Schritten bewegte sich Vater D’Violenza auf Peter zu und hob den fallengelassenen Eimer auf, roch an ihm und warf einen kurzen Blick hinein. Wenn Blicke töten könnten, wäre Sabines Ex augenblicklich zusammengebrochen. Ohne sein Gegenüber aus den Augen zu lassen, schmiss der kleine Italiener den Eimer zur Seite. Von allen Richtungen sah sich der bis vor kurzem noch tobende Riese von den männlichen Vertretern der völlig fassungslosen Familie D’Violenza umgeben.
»Was hast du gemacht? Warum? Ich verlier die Nerven!«, dabei schlug der Vater, um dem Ganzen den für ihn notwendigen Nachdruck zu verleihen bei jedem Wort mit dem Handrücken auf Peters Brust. »Der Wagen ist keine Woche alt! Weißt du eigentlich was einem Italiener sein Auto bedeutet, weißt du, dass ich mein Auto liebe, du... das ist ein Alfa, der ist Italiener, wie wir!«
Peter gab keine Antwort, sondern wurde immer nur noch bleicher und fahriger. Paul war einige Autos weiter geschlichen, stand dann auf, schlenderte auf die Haustüre zu und sprach seinen italienischen Nachbarn freundlich an: »Herr D’Violenza, was ist denn passiert?«
»Passiert? Stellen sie sich vor, Herr Meier, was dieser Mörder hier gemacht hat, schauen sie sich meinen Wagen an!«
Paul lief um das Cabrio herum, schüttelte den Kopf und hielt sich dabei abwechselnd seine Hände vor Mund und Augen. Ein wenig Theatralik tat seiner Meinung nach gut und sollte seine Abscheu vor dieser Tat untermauern.
»Ich werde ihn töten, ich werde ihn danach überfahren, vorwärts und rückwärts und wieder vorwärts. Dann werde ich ihn wiederbeleben und ihn erschießen und direkt danach aufhängen und wieder ...!«, Vater D’Violenza war einer Herzattacke nahe.
»Das hat doch keinen Sinn!«, Paul unterbrach seinen aufgebrachten Nachbarn, »wenn sie ihn dabei erwischt haben, rufen sie die Polizei, die wird das alles klären und sie bekommen den Schaden ersetzt.«
»Fabrizio, Franco, ihr passt auf, dass der Kerl nicht abhaut! Adriana, du rufst die Polizei!«
Adriana D’Violenza hatte das Handy schon in der Hand und tippte darauf herum. Der Vater tobte weiter zwischen seiner Frau und den Söhnen hin und her. Paul legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Ich geh mal rein, wenn was ist, wenn sie mich brauchen, schämen sie sich nicht, klingeln sie, wozu sind Nachbarn da«, damit drehte er sich weg und öffnete lächelnd die Haustür. Der Italiener drehte kurz den Kopf in Pauls Richtung und rief ihm hinterher:
»Ich danke ihnen, mein guter Freund.«
Gleich darauf widmete er sich wieder Peter und achtete nicht weiter auf seinen Nachbarn. Sabine kam Paul entgegen und fragte besorgt: »Was geht denn da draußen vor?«
Paul antwortete lachend: »Ach vergiss es, unwichtig, die Italiener von oben haben Stress, es geht wohl um ihren neuen Wagen. Gehst du eben mit, ich wollte mich noch für deine Hilfe gestern bedanken?!«
Sabine nickte, ging vor Paul die Stufen wieder hinauf und blieb vor seiner Wohnungstür stehen. Er schloss auf und bedeutete Sabine, dass sie doch eintreten sollte und die hübsche Nachbarin tat ihm den Gefallen. Paul ging vor und Sabine folgte ihm in sein Wohnzimmer. Auf dem Tisch lagen noch die Pralinenschachtel und die Blumen. Er nahm zuerst die Blumen.
»Hier, ich wollte mich für das Ganze am Montag einfach mal bedanken«, dann überreichte er ihr noch die Pralinen. »Also was soll ich sagen, einfach danke noch mal.«
»Du, das war nicht nötig, ich konnte dich ja unmöglich so liegen lassen«, gab Sabine zurück.
»Trotzdem danke, so hätte nicht jede reagiert. Darf ich dich auf einen Cappuccino einladen?«
Sabine hatte damit kein Problem und beide unterhielten sich bei Pauls Lieblingsgetränk über das, was sie montags zusammen erlebt hatten. Nach der Tasse Cappuccino verließ Sabine die Wohnung wieder.
»Tut mir leid, aber ich hab jetzt noch zu tun. Wir können das gerne mal wiederholen, nur jetzt muss ich erstmal Erinnerungen beseitigen.«
»Mach das, und wenn du mich brauchst, du weißt ja, wo ich wohne!«, Paul sah seine Nachbarin mitleidig an.
»Danke Paul, vielleicht bis morgen!«, damit betrat Sabine den Hausgang und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Im Gegensatz zu den letzten Tagen konnte man mit diesem doch echt zufrieden sein. Bisher verlief er trotz der siebenhundert Euro Verlust mehr als erfolgreich.
Es klingelte und Paul überkam sofort ein schlechtes Gefühl, sollten die italienischen Nachbarn oder sogar die Polizei etwas von ihm wollen? Langsam drückte er die Türklinke nach unten und zog die Türe einen Spalt weit auf.
»Kann ich ihnen ... Ach so, du bist es, komm schnell rein!«
Paul öffnete die Tür ganz und ließ Farhad hinein, der über das ganze Gesicht grinste. Dieses Grinsen wurde von Paul sofort kopiert und als er die Tür geschlossen hatte, wich das Grinsen einem lauten Lachen.
»Das war so geil, noch besser als geplant. Genial!«
5. Schock
Farhad und Paul amüsierten sich noch eine ganze Weile über die Szene vor dem Haus und sie wussten, dass es Peter ab sofort nicht mehr so einfach haben würde, seine Ex zu besuchen. Mit den Italienern hatte er Freunde fürs Leben gefunden, den ruinierten Alfa würden sie ihm nie vergessen, so viel war sicher. Bei dem obligatorischen Cappuccino und den von Paul in kleinen Schüsselchen aufgetischten Süßigkeiten ahmten sie das Schimpfen der Italiener und den Gesichtsausdruck von Peter nach. Herrlich, so viel Spaß hatte Paul seit Jahren nicht gehabt. Farhad nahm eine Handvoll Gummibärchen und mit der anderen Hand schob er sich eines nach dem anderen in den Mund, ohne dabei die Unterhaltung oder das Lachen deshalb zu unterbrechen. Danach bediente er sich auf die gleiche Art an den Schokobonbons, an denen er sich aber beim Lachen beinahe verschluckte.
»Willst du noch ne Tasse oder etwas anderes? Habe aber nur Wasser oder Bier anzubieten«, fragte Paul.
»Ja, eine Tasse würde noch rein gehen«, gab Farhad zurück.
Paul ging in die Küche und ließ noch mal zwei Tassen seines Cappuccinos heraus und betrat wieder sein Wohnzimmer. Farhad hielt Giselas Pillendose in der Hand und besah sie sich genau, schraubte sie auf und sah hinein.
»Warum hast du diese Bonbons in einer Dose, sind die was Besonderes?«
»Ja und wie, sehr besonders. Das sind die Beruhigungstabletten meiner Schwester. Die hat sie vergessen«, Paul lachte und Farhad lachte mit.
»Sie muss sehr nervös sein, da sind nur noch zwei drin.«
»Ja Farhad das ist sie, ich könnte dir Dinge erzählen... Ach was, ich erzähle dir Dinge!«
Paul hatte Spaß und erzählte seinem neuen besten Freund von seiner Familie. Er erzählte von den besten Satzverdrehern seiner Mutter und schilderte die besten Selbstmordversuche seiner Schwester. Erzählte auch von seinem Vater, den er schon immer etwas beneidete. Denn sein Vater hatte keine Probleme mit Frauen, er hatte immer eine, manchmal auch zwei gleichzeitig. Er war zwar genauso alt wie Pauls Mutter, doch ihm merkte man es nicht an. Er sah wenigstens zehn Jahre jünger aus und benahm sich wenigstens zwanzig Jahre jünger. Beide lachten herzhaft über jeden Schwank aus Pauls Familienchronik.
Farhad fragte nach: »Du glaubst also, dass deine Schwester das alles nur spielt?«
»Wenn du sie kennen würdest, würdest du das auch glauben«, Pauls Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er von dieser Aussage fest überzeugt war.
»Nach allem, was du mir erzählt hast Paul, glaube ich dir auch so. Aber die Beruhigungstabletten interessieren mich.«
»Junge, das sind definitiv Schokobonbons und sie sehen sogar genauso aus wie die«, dabei deutete Paul auf die Schüssel mit den Süßigkeiten, an denen sich Farhad kurz zuvor bedient hatte.
»Dann versuch ich doch mal eine«, Farhad nahm eine Beruhigungstablette aus der Pillendose, legte sie auf seine Zunge und begann sie genüsslich zu lutschen.
»Ich würde sagen Vollmilch«, dabei lachte er laut auf.
Paul sah ihn erstaunt an. »Ernsthaft?«
»Ja hier versuch selbst! Ist ja noch eine da!«
Paul griff zu, lutschte das Medikament, um im nächsten Moment seinerseits laut zu lachen. »Ja Schokolade ist eben Nervennahrung!«
Das Gelächter der beiden wurde vom Telefon unterbrochen. Paul sah ungläubig in Richtung seiner Station. Wie, zweimal an einem Tag? Unglaublich! Sollte sich der Preis für seine Ruhe doch noch erhöht haben, dachte er sofort. Er griff das Mobilteil und setzte sich wieder.
»Ja!?«
»Mutti hier!«
»Willst du wieder hören, was ich mache?«, Paul zwinkerte Farhad zu.
»Nein ich war eben mit Gisela einkaufen. Sie hat sich ein talentiertes Kleid gekauft und ...«, Pauls Mutter klang gestresst.
»Prima, was kann es denn?«, Paul musste sich anstrengen, um bei seiner Frage nicht laut zu lachen.
»Wieso? Ach egal, aber ich hab dir auch noch Unterwäsche mitgebracht, für die Baustelle.«
Mit einem verdatterten Gesichtsausdruck antwortete Paul: »Mutter die Kollegen sehen es nicht so gerne, wenn ich in Unterwäsche komme.«
»Jetzt hör doch mal auf damit! Ich wollte dir nur sagen, dass Gisela ihre Tabletten vermisst. Hat sie die bei dir liegen gelassen?«
»Ja die sind noch hier!«, im nächsten Moment ärgerte er sich, dass er das gesagt hatte, denn schließlich war zwar die Pillendose noch da, aber den Inhalt hatten sich Farhad und er ja gerade eben schmecken lassen.
»Kannst du sie eben schnell zu mir bringen? Gisela bleibt noch hier zum Essen.«
»Nein Mutti das geht heute nicht mehr, hab schon was getrunken und kann nicht mehr fahren«, Paul glaubte, sich damit aus der Schusslinie gebracht zu haben, wurde aber sofort eines Besseren belehrt.
»Paul du sollst nicht immer so viel trinken! Dann kommt Gisela nachher noch schnell bei dir vorbei und holt ihre Tabletten ab«, so aus dieser Nummer kam er also nicht raus.
»Ja okay.« Recht war ihm das jetzt nicht, aber was hätte er sagen sollen?
Das Gespräch wurde beendet und Paul setzte sich wieder zu seinem Freund an den Tisch.
»Verdammt ich habe das große Los gezogen, meine Schwester kommt noch mal und holt ihre leere Pillendose.«
Farhad sah ihn an, nahm zwei Schokobonbons aus der Schüssel und ließ sie in die Dose fallen.
»Wieso leer? Das sind zwar keine Vollmilch, aber Schokobonbons und die beruhigen nicht nur, sondern sorgen mit ein wenig Haselnuss auch noch für Abwechslung.«
Beide lachten. Farhad stand auf, legte Paul seine linke Hand auf die Schulter und sagte: »So ich bin dann mal weg«, damit hielt er seinem Gegenüber die rechte Hand entgegen und der schlug ein. Farhad umarmte Paul und verließ die Wohnung, während Paul den Tisch abräumte. Die Süßigkeiten wurden im Schrank verstaut und die beiden Tassen nahm er mit in die Küche, um sie sofort zu spülen. Kurz darauf klingelte es Sturm und Paul war sofort klar, wer da so unverschämt war. Er rannte ins Bad, klatschte sich Wasser ins Gesicht und warf sich ein Badetuch über den Kopf. Erst danach öffnete er die Tür einen Spalt, sodass nur sein Kopf zu sehen war, und streckte seine Hand, in der er die Pillendose hielt, hinaus.
»Schade Gisela, ich dusche gerade, sonst hätte ich dich reingelassen.«
Gisela nahm ihrem Bruder die Pillendose ab, hielt ihm eine kleine Tüte entgegen, die er sofort ergriff und die Tür zuwarf. Paul verschwendete keinen Gedanken mehr an Gisela, lief ins Bad und warf das Badetuch über die Halterung. Er packte die Tüte, so wie sie war im Schlafzimmer in seine Schublade und betrat die Küche um seine Tassen wegzuräumen.
»So genug für heute!«, er konnte sich zwar gut bewegen, aber die Schmerzen waren nun mal noch nicht ganz verschwunden. Also schnappte er sich ein paar Kissen, baute sich einen Thron und rutschte im Sitzen so lange hin und her, bis alles passte. Jetzt war die beste Zeit zum Fernsehen. Er drückte auf der Fernbedienung ein paarmal hoch und runter und blieb dann bei einem alten Western hängen. War ja klar, Pay-TV lohnt sich, hundert Sender und man sah am frühen Abend einen Film von 1963. Der Hauptdarsteller, dessen Gang darauf schließen ließ, dass auch er mit einer Hodenprellung zu kämpfen hatte, schoss und schlug sich durch den Wilden Westen, dass es Paul eine Freude war. Er dachte darüber nach, ob nicht genau so ein Genre auf dem PC und Konsolenmarkt fehlte. Im Gedanken kämpfte er sich schon durch die unendlichen Weiten des Westens, lieferte sich in Saloons die übelsten Schlägereien. Auch Duelle sollten möglich sein und ob man gut oder böse sein wollte, sollte man selbst entscheiden dürfen. Ach herrlich ...
Die verdammte Klingel, was war bloß in der letzten Zeit hier los? Er erhob sich langsam von der Couch und ging zur Tür. Die Schmerzen waren wieder da, nicht so penetrant wie am Anfang, aber doch deutlich spürbar. Das Sitzen schien ihm nicht bekommen zu sein, trotzdem musste er über seinen eigenen Gang beinahe lachen. Er hielt sich beim Gehen die ausgestreckten Daumen und Zeigefinger beider Hände an die Hüften und stellte fest, dass sein Gang sofort viel cooler wirkte. An der Tür angekommen, riss er die rechte Hand hoch, zielte mit dem Zeigefinger auf die Tür, zog mit der linken Hand ein paarmal schnell über den rechten Daumen, pustete danach über den Zeigefinger und führte die rechte Hand wieder zurück zur Hüfte. Ja, sehr cool!
Paul öffnete die Tür und war freudig überrascht, denn vor ihm stand Sabine. Sie hielt einen Teller in der einen und Besteck in der anderen Hand.
»Hey, ich dachte, ich lade dich mal zum Essen ein. Nichts Besonderes, vegetarische Bratwürste und Pommes.«
»Nichts Besonderes?«, dachte er. Pommes okay, das war nichts Besonderes, aber schon alleine die Worte vegetarische Bratwürste waren für ihn im Zusammenhang so besonders wie trockener Wein, zuckerfreie Cola und gleichgeschlechtliche Ehepaare. Messerscharf und pfeilschnell schlussfolgerte er, Sabine war Vegetarierin! In der Hinsicht war also Vorsicht geboten. Kein falsches Wort über Essen, über Tiere und vor allem nicht über Tiere im Essen.
»Du ich freu mich, kommst du rein oder hast du schon gegessen und lässt mich alleine essen?«, Paul hoffte auf die richtige Antwort und wurde nicht enttäuscht.
»Nein ich würde meins noch rüber holen, wenn du mich rein lässt.«
»Gerne, es schmeckt zu zweit doch gleich viel besser!«, damit drehte Paul sich um und ging mit Teller und Besteck ins Wohnzimmer, wo er alles auf dem Tisch positionierte. Danach nahm er zwei Weingläser aus dem Wohnzimmerschrank, stellte aber fest, dass die doch sehr verstaubt waren und nahm sie mit, um sie in der Küche kurz abzuspülen. Im Kühlschrank stand noch eine Flasche Wein vom Pizzalieferservice. Wirklich gut war so ein Wein nie, aber Bier wollte er Sabine auch nicht anbieten. Zurück im Wohnzimmer sah er, dass Sabine schon eine Schüssel Pommes, Ketchup und einen Teller mit vegetarischen Würstchen rüber gebracht hatte. Er setzte sich auf seinen Thron, rückte die Kissen so zurecht, dass das Sitzen erträglich wurde und wartete. Sabine betrat mit einem weiteren Teller und Besteck das Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch, schüttete eine Handvoll Pommes aus der Schüssel auf ihren Teller, nahm mit der Gabel eine Bratwurst und begann zu essen. Paul tat es ihr nach.
»Ich hoffe, es schmeckt dir. Sojawürstchen schmecken nicht jedem, aber ich hab sie ganz gerne mal.«
»Doch klar, ich mach die auch hin und wieder, schmecken super und man merkt gar nicht, dass da etwas fehlt«, tat Paul schwer begeistert.
»Na ja eigentlich fehlt ja auch nichts!«, entgegnete Sabine vorwurfsvoll.
»Stimmt, ich esse so gut wie kein Fleisch und mir fehlt auch nichts«, Paul hatte das Gefühl leicht rot zu werden und hoffte, dass Sabine ihm die Lügerei nicht ansehen würde.
»Sabine, ich hab hier noch einen trockenen Wein, der passt bestimmt hervorragend zu den tro... äh, zu den Würstchen.«
»Oh je, lass mal Paul, ich kenn den Wein, hab davon bestimmt zwanzig Flaschen im Keller. Peter hat ja immer mal wieder bestellt und na ja, also den Wein nehme ich, wenn ich keinen Essig mehr im Haus habe. Hast du kein Bier für mich?«
Sabine wurde Paul immer sympathischer. »Doch klar!«
Er brachte Gläser und Wein in die Küche und kam zurück mit zwei Flaschen Hefeweizen. Nachdem er auch die Weizengläser aus dem Schrank geräumt und vor sich auf dem Tisch abgestellt hatte, öffnete er mit seinem Feuerzeug die Flaschen und schenkte gekonnt ein. Sabine und Paul unterhielten sich beim Essen über mehr oder weniger Belangloses. Sie sprachen über Peter und über Pauls Unfall. Wieder meldete sich sein Telefon.
»Verdammt, wer ruft jetzt noch an?«, Paul überlegte kurz, ob er wirklich abheben sollte, und ging dann doch ran.
»Ja!?«
»Kommst du bitte schnell in die Klinik?«, gehörte diese weinerliche Stimme seiner Mutter?
»Mutti?«
»Ja, komm bitte schnell! Gisela geht es nicht gut.«
»Mutti bitte, ich hab schon was getrunken, wollte gerade ins Bett und ganz ehrlich, wie oft hatten wir das schon? Ist noch eine Rechnung offen, haben die siebenhundert Euro nicht gereicht?«
»Junge, Gisela war wohl nervös und hat ihr Medikament eingenommen. Kurz danach bekam sie Atemnot, hat gebrochen und ist dann zusammengeklappt. Würde sie nicht in einer WG wohnen, wäre sie jetzt tot. Die Ärzte meinen, es war ein allergischer Schock, hervorgerufen durch Haselnüsse.«
Paul wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er hatte das Gefühl, dass ganz egal was er jetzt sagen würde, er würde sich verraten.
»Ok, ich bin gleich da!«
Er beendete das Telefonat und sprach sofort Sabine an: »Sabine, es tut mir leid, ich muss los. Meine Schwester hatte einen allergischen Schock und ist jetzt in der Klinik.«
»Kein Problem, wenn es dir recht ist, dann komme ich mit.«
Recht? Das war ihm sehr recht! Das gute Weizenbier ließen sie einfach stehen und fuhren los. Auf dem Weg in die Klinik erzählte Paul von seiner Familie im Allgemeinen und von Gisela insbesondere. Sabine schmunzelte, schüttelte den Kopf und lachte lauthals, drehte sich zu Paul, sah ihm ins Gesicht und schwieg. Paul lachte nicht. Ausnahmsweise fand er mal nichts lustig, was Gisela betraf. Im Gegenteil, er machte sich schwere Vorwürfe, denn um ein Haar hätte er seine eigene Schwester auf dem Gewissen gehabt. Er wurde nach außen immer ruhiger, aber im Inneren kochte er fast über. An der Einfahrt zur Klinik drückte er den Knopf, zog seinen Parkschein, die Schranke ging hoch und er fuhr so weit nach vorne in Richtung Klinikeingang, wie es ihm möglich war. Roboterähnlich stieg er aus. Sabine tat es ihm gleich und musste ihm fast hinterherlaufen, so eilig hatte er es. An der Information bekam er Etage und Zimmernummer genannt. Mit Sabine bestieg er den Aufzug, beide fuhren zwei Etagen nach unten und Paul öffnete die Tür zur Station. Vor der Tür zum Zimmer 205 blieb er kurz stehen, sammelte sich, warf Sabine einen kurzen Blick zu, klopfte und öffnete die Tür.
Vorsichtig betrat er das Krankenzimmer. Paul konnte diesen Geruch nicht leiden, schon oben auf den Gängen roch es einfach nach Krankenhaus, nach Bakterien, nach Desinfektionsmitteln und nach übertünchter Scheiße. In Giselas Zimmer kam der Geruch von frisch Erbrochenem und Schweiß dazu, einfach unerträglich! Er ging drei Schritte nach vorne, an der Badezimmertür vorbei. Das Bett rechts war leer und mit einem grünen Laken abgedeckt. An dem Bett links saß seine Mutter und hielt die Hand seiner Schwester, die flach im Bett lag.
Ein kurzes und leises »Hallo« und Paul stellte sich seiner Mutter gegenüber an Giselas Bett. Das hatte er nicht gewollt, Gisela sah zum Erbarmen aus. Rot bis Violett-blau geschwollen war ihr Gesicht, die Haare schweißnass. Beinahe wollte er sich entschuldigen, konnte sich aber noch gerade so bremsen.
»War sie schon mal wieder wach?«, fragend sah er seine Mutter an und erschrak.
»Iff bimm waff!«, Paul sah seiner Schwester ins Gesicht, die Augen waren jetzt offen, rot unterlaufen und man konnte sehen, dass die Zunge geschwollen war. Jetzt ging es ihm schlagartig noch schlechter. Zu dem schlechten Gefühl, am Zustand Giselas schuld zu sein, kam jetzt noch Angst. Angst, was alles hätte passieren können, aber auch, dass bei ihr jetzt noch Komplikationen auftreten konnten.
»Wie geht es dir jetzt?«, er wusste selbst, dass das jetzt nicht die cleverste Frage war, aber was hätte er jetzt sagen sollen?
»Wie wirbft ebf mir gehn? Ibf lebfe, mehr nibft!«
»Paul, lass sie schlafen!«, seine Mutter schaute ihn kurz an, schüttelte leicht den Kopf und streichelte weiter Giselas Arm. »Der Arzt sagt, es ist nicht so schlimm, wie es aussieht, sie haben hier alles unter Kontrolle. Gisela hat wohl irgendwie Nüsse erwischt und darauf sehr stark reagiert.«
Sabine hielt sich die ganze Zeit im Hintergrund und sagte kein Wort.
»Mama ich muss hier raus, ich kann den Geruch nur schwer ertragen, soll ich dich mitnehmen?«
Pauls Mutter schüttelte den Kopf. »Nein ich bleib noch hier, fahr du ruhig. Ich will später noch mal mit dem Arzt reden und nehme mir dann ein Taxi.«
Paul nahm Giselas Hand und drückte sie. »Ich ruf dich morgen an und, wenn du was brauchst, ich bringe es dir, ok Schwesterchen!?«, Gisela öffnete kurz die Augen und nickte.
Er wunderte sich über sich selbst, hatte er jetzt wirklich »Schwesterchen« gesagt?
»Mama sag Bescheid, wenn was ist!«
»Ja mach ich.«
Sabine ging, beinahe von Paul geschoben, vorneweg und beide verließen das Krankenzimmer.
»Paul geht’s dir gut?«
Er sah in Sabines besorgtes Gesicht und sagte: »Weißt du Sabine, das ist alles meine Schuld. Ich fühle mich einfach wirklich schlecht. Sie hätte tot sein können!«
»Alles ist gut, sie wird sich erholen und du kannst doch nichts für ihre Allergie und nichts dafür, wenn sie Nüsse isst.«
Er antwortete nicht mehr, verkniff sich lieber jeden weiteren Kommentar und nickte nur leicht. Auf dem Rückweg zu Pauls Wagen sprachen sie kein Wort mehr miteinander. Während er auf den gepflasterten Weg vor sich starrte, begleiteten ihn Sabines besorgte Blicke. Auch auf der Rückfahrt kam es zu keiner echten Unterhaltung mehr, Paul fühlte sich einfach wirklich mies, müde und irgendwie wie in einem Traum. Er stellte seinen Golf ab, verabschiedete sich kurz zwischen den Wohnungstüren von Sabine und lag nur fünf Minuten nach dem Betreten seiner Wohnung im Bett.
6. In Teufels Küche
Freitag, 10:30 Uhr.
Er hatte wieder zu lange geschlafen, aber im Gegensatz zu seinen Gewohnheiten führte ihn heute sein erster Weg zum Telefon. Paul tippte die Nummer seiner Mutter in das Mobilteil und schon nach dem zweiten Freizeichen hörte er ihre Stimme.
»Gisela?«
»Nein Mama ich bin es, Paul!«
»Ach so, Junge ich warte auf den Anruf aus der Klinik, Gisela wartet auf die Visite. Dann erfahren wir, wie lange sie noch in der Klinik bleiben muss.«
»Wie geht es ihr denn?«, fragte Paul wirklich besorgt.
»Sie ist wieder ganz die Alte, das Gesicht ist abgeschwollen, die Pusteln sind weg, sie bekommt Luft und kann reden.«
Ihm fiel eine tonnenschwere Last vom Herzen und fragte schon deutlich entspannter: »Hat sie gesagt, ob sie vielleicht irgendetwas braucht?«
»Es ist halt so, das Krankenhaustagegeld wird fällig, und egal ob sie heute raus darf oder noch über das Wochenende dort bleiben muss, es wird für dein Schwesterchen teuer werden. Außerdem soll sie noch nicht normal essen und lieber Babynahrung zu sich nehmen. Da kostet das Gläschen ja gleich einiges. Also wenn ich überlege, heute würde ich sicher keine Kinder mehr auf die Welt setzen wo ...«
Nicht für Gisela, nein für ihn würde das teuer werden, dessen war er sich sofort bewusst. Darum wollte er auch nicht lange um den heißen Brei herumreden und diesen Ablassbrief bezahlen. Natürlich war ihm die Höhe nicht komplett egal, aber er hatte sich darauf vorbereitet auch tiefer in die Tasche zu greifen, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Alles was verhindern würde, dass ihm das verpustelte und geschwollene Gesicht seiner Schwester im Traum erschien, wollte er ohne Murren annehmen. Er bereitete sich auf das Schlimmste vor, atmete einige Male tief durch und fragte:
»Wie viel braucht Gisela denn?«
»Ich denke, mit zweihundertfünfzig sollte das Thema erledigt sein«, antwortete seine Mutter.
»Ihr wisst schon, was ich verdiene und dass ihr in zwei bis drei Tagen das Doppelte von mir bekommen habt, was ich in etwa im Monat für mich ausgebe? Egal lass gut sein! Holst du das Geld bei mir ab oder soll ich es bringen?«
Resi Meier ging mit keiner Silbe auf das Gejammere ihres Sohnes ein. »Nein, ich komme später kurz zu dir und nehme es mit.«
Für sie war damit alles gesagt und so beendete sie das Gespräch nach einer kurzen Verabschiedung. Paul hatte mit deutlich höheren Kosten gerechnet, musste um sein Gesicht zu wahren aber wenigstens so tun, als würde er um sein Geld kämpfen. Beinahe zufrieden parkte er sein Mobilteil auf der Station, verließ das Wohnzimmer und betrat seine Küche, um sich den ersten Cappuccino des Tages zu kredenzen. Heute hätte er also außer dem Besuch am Geldautomaten nichts zu tun und mittlerweile waren seine Schmerzen im Schritt deutlich zurückgegangen, sodass er sich in seinen Chefsessel vor den Computer pflanzen konnte.
Das Headset wurde in Position gebracht und der Computer hochgefahren. Im Voice-Chat seines Clans wurde nur Heiner als online angezeigt, es war also von vornherein klar, dass keine Unterhaltung möglich war. Heiner hatte meistens schon am Vormittag einen im Tee, und wenn er dann mal etwas sagte, war er nicht wirklich zu verstehen. Im Höchstfall fünf Personen spielten in der nächsten Stunde gleichzeitig auf ihrem vom Clan angemieteten Server. Heiner drehte sich meist am Spawnpunkt im Kreis, zielte dabei langsam mit dem Lauf seiner Waffe vom Boden zum Himmel und wieder zurück, hatte aber trotzdem, als Paul auf den Server kam, mit Abstand die meisten Kills. So besoffen war er selten, dass er keine Noobs abräumen konnte. Paul blieb also tunlichst in Heiners Team ...
Die Zeit rannte beim Spielen förmlich. Was er stehen ließ oder sich an ihm vorbeimogelte, wurde von Heiner am Startpunkt unter den Rasen gepflügt. Mit den üblichen Beschimpfungen wie »Cheater« und einigen anderen, noch unschönerer Worte leerte sich nach und nach der Server. Die Kids würden es nie begreifen. Pauls Clan war einer der Ältesten im World Wide Web, die Clanmitglieder traten in Clanwars gegen andere Clans an und spielten auch in einigen Ligen eine Rolle. Wöchentlich war mehrmals Training angesagt, dort ging es um Taktik und die Eigenschaften der einzelnen Waffen. Das Spiel im Clan hatte also mit dem normalen Spielen wenig zu tun. Wer sich zehn Jahre durch das Netz geballert hat, der hat mit Kids, die wie wild und ohne Taktik über die Maps rennen oder noch schlimmer springen, kaum Probleme. Die Beschimpfungen waren also eher Balsam auf der Gamerseele. Als der Letzte mitten in der Runde seine Verbindung trennte, verließ auch Paul den Server, legte sein Headset neben den Monitor und fuhr den Computer herunter.
Wieder klingelte es an der Tür.
»Farhad, bist du es?«
Als Paul die Tür öffnete, stand dort nicht etwa wie gedacht sein türkischer Nachbar, nein, Udo lächelte ihn an. Der langhaarige Rocker hatte sich wieder fein hergerichtet. Er stand Paul in schwarzer Lederhose, schwarzem Pullover, den er in die Hose gesteckt hatte und brauner Wildlederweste gegenüber. Der immer etwas verstrahlt aus seiner runden staubigen Drahtbrille schielende Metal-Fan hielt vor sich seinen Fertigfutterkarton, den er Paul entgegenhielt. Udo hatte es auch nach Jahren nie fertiggebracht sich einen Herd zu leisten und klingelte sich so vor jedem Essen auf gut Glück durch die Nachbarschaft, um irgendwo sein Fertigfutter erhitzen zu können.
»Du Paul kann ich grad mal eben deine Feuerstelle missbrauchen?«, fragte er.
»Ja Kerl, mach aber hin, ich muss gleich noch mal los«, gab Paul freundlich aber bestimmt zurück.
»Du, dann lass dich nicht aufhalten, ich kenn mich ja aus.«
Paul überlegte kurz und kam zum Ergebnis, dass Udo zwar verstrahlt, aber sonst wirklich zuverlässig war. Er würde ihn also ruhig unbeaufsichtigt lassen können.
»Also gut! Du ich zieh mich schnell an und fahr kurz zur Bank, wäre gut, wenn das Haus noch steht, wenn ich wiederkomme.«
»Du, klar Alter, hau ab!«
Eher aus Freundlichkeit erkundigte sich Paul nach Udos Nachmittagsessen: »Was gibt es denn heute?«
Udo zog den Plastikteller, der mit einer Silberfolie überzogen war, aus dem Pappkarton und hielt ihn Paul hin.
»Sieht ja lecker aus«, Paul grinste Udo an.
»Ach so, äh das ist Hühnerfrikassee mit Reis.«
»Lass es dir schmecken, bin gleich zurück.«
Paul verließ die Küche, nahm im Schlafzimmer seine Klamotten vom Fußende des Bettes und zog sich an. Bevor er die Wohnung verließ, warf er noch einen Blick in seine Küche. Udo war gerade dabei den Herd auf die passende Temperatur einzustellen. Ein Topf mit Wasser stand schon auf der Herdplatte und der Plastikteller lag auf der Abtropffläche des Spülschrankes. Mit einem kurzen Winken trat Paul aus seiner Wohnung und stand nur kurze Zeit später auf dem Bürgersteig.
Das Institut seines Vertrauens war nur etwa zweihundert Meter von seinem Zuhause beheimatet, normal also eine Strecke, die er gefahren wäre. Doch die Parksituation dort war immer schlecht und in Erinnerung an sein Knöllchen, das im Schlafzimmer auf dem Schreibtisch lag, entschloss er sich, heute zu laufen. Kaum ein Mensch kam ihm entgegen. Er lebte nicht gerne in dieser abgerissenen Gegend, aber hier konnte man wirklich sparen. Die Mieten waren im Vergleich zu anderen Stadtteilen sehr gering und wenn es um sein liebes Geld ging, war er gerne bereit Abstriche in Kauf zu nehmen.
Am Geldautomaten schob er seine Karte ein, ließ sich zuerst den Kontostand anzeigen und war fürs Erste bedient. Beinahe einen Monat Arbeit und kaum eine Veränderung zum letzten Kontostand. Schlimm! Er zog unter körperlichen Schmerzen sein sauerverdientes Geld, steckte seine Karte zurück in die Brieftasche, rollte die Scheine zusammen und steckte sie in die Hosentasche. Ohne seine Umgebung oder andere Personen besonders wahrzunehmen, stakste er zurück. Wem hätte er hier auch groß Aufmerksamkeit schenken sollen?
In dieser Gegend gab es kaum Geschäfte, kaum ein Haus, welches aus dem Grau der anderen herausgestochen hätte. Grün sah man nur in den aufgesprungenen Bordsteinkanten. Ein Hipster verirrte sich im Normalfall nicht hier her und wenn doch, dann verriegelte sich sein Wagen sicher automatisch. Hier wohnten genau zwei Arten Menschen: Die einen gingen früh morgens aus dem Haus und kamen am Abend mit der gleichen Körperhaltung und dem gleichen Gesichtsausdruck wieder zurück, und die anderen hatten den ganzen Tag die gleiche Körperhaltung und den gleichen Gesichtsausdruck, nur eben ohne aus dem Haus zu gehen.
Sein Weg führte ihn gerade über den Parkplatz gegenüber seines Domizils, als dort die Haustüre geöffnet wurde und sein Vater heraustrat. Der hatte ihn noch nicht bemerkt und wollte wohl zu seinem Wagen. Paul blieb stehen und ließ seinen Vater auf sich zukommen.
»Was machst du denn da, ist was?«, fragte er.
»Wieso, was soll sein?«, antwortete der erschrocken.
»Du hast mich doch noch nie besucht...!«
»Ich, ach so ja, war gerade in der Nähe und dachte... Egal, Junge ich muss weg, sehen uns!«
Damit war das Gespräch für seinen Vater beendet, er stieg in seinen alten Ford Taunus, schlug die Tür zu und ließ Paul verdattert zurück.
»OK!?«, Paul überquerte kopfschüttelnd die Straße, drückte die Haustür auf und schlurfte die Treppen hinauf. Oben angekommen wurde Sabines Tür energisch aufgerissen und seine Nachbarin sprang förmlich ins Treppenhaus. Mit zornigem Gesichtsausdruck und gerötetem Kopf sah sie ihn an.
»Ach so, du bist es!«
»Ja, ich bin es!«, Paul grinste Sabine an, und fragte: »Hast du jemand anderes erwartet?«
»Nein, ich dachte nur, es wäre wieder dieser perverse alte Sack«, bekam er als Antwort entgegengespuckt, bevor Sabine ihre Wohnungstür ohne ein weiteres Wort zuwarf.
Paul schüttelte weiter den Kopf, öffnete dabei seine Wohnungstür und betrat den kleinen Flur. Udo machte sich gerade an Pauls Stereoanlage zu schaffen.
»Sehe schon, du fühlst dich wohl!?«, begrüßte er seinen Nachbarn.
»Ja echt gut deine Sammlung«, dabei deutete Udo auf das CD-Regal neben der Anlage und im nächsten Moment hallte »Die for Metal« von Manowar durch die Wohnung.
Paul sah keine Veranlassung sein Kopfschütteln einzustellen und betrat die Küche. Hitze und Dampf schlugen ihm entgegen. Der Topf dampfte und vibrierte auf der Kochplatte und auf dem Herd hatten sich kleine Pfützen gebildet. Er trat an den Herd heran, um die Temperatur herunterzudrehen und sah dabei in den Topf. Die Alufolie auf der Kunststoffverpackung von Udos »Festmahl« war zur Halbkugel gewölbt und im Topf befand sich kaum noch Wasser. Paul griff sich aus einer Schublade seine Küchenzange und rief gleichzeitig in Richtung Wohnzimmer:
»Udo!«, und versuchte mit der Zange den Plastikteller im Topf zu greifen, was ihm erst nach mehreren Versuchen gelang. Udo betrat die Küche und stand zwischen seinem Gastgeber und der Küchentür, als Paul ihm die Halbkugel entgegenhielt.
»Du musst schon hin und wieder mal ...«, im selben Moment knallte es!
Das Inferno brach los!
Paul verspürte eine harte Druckwelle und gleichzeitig starke Einschläge im Gesicht. Sehen konnte er nicht, was da gerade passierte. Reflexartig drehte er sich zur Seite und ging in die Knie, gleichzeitig wurde ihm schwarz vor den Augen und schwindelig, seine Ohren dröhnten und pfiffen. Die Zange hatte er losgelassen und stützte sich mit beiden Händen auf dem Fußboden ab. Nur ganz langsam kam er wieder zu sich, verschwommen und stark schwankend nahm er seine Küche wahr. Er sah braune Spritzer und Flecken an den Schränken und der Tapete, Brocken aus Fleisch und Reis auf dem Boden. Jetzt kamen auch Schmerzen auf, es brannte höllisch in seinem Gesicht, am Hals und am Arm. Verdammt, was konnte da passiert sein? Er blieb noch etwa eine Minute in dieser Position und rappelte sich dann langsam auf.
Überall Fleischbrocken, Soße und Reis. Er drehte sich langsam herum und sah zur Tür. Udo lag auf dem Bauch, die Hände vor sein Gesicht gepresst, die Haare voll mit einem Brei aus Hühnerfrikassee.
»Udo, was ist mit dir? Alles gut?«, rief er seinem Nachbarn entgegen, der nur leise jammerte. Er packte den Rocker an der Schulter und drehte ihn langsam herum. Immer noch hielt Udo die Hände vor sein Gesicht.
»Nimm die Hände weg, lass mich sehen, was passiert ist!«
Langsam zog Udo die Hände nach unten und gab den Blick frei auf sein Gesicht. Die Brille war gesprungen, hatte aber wenigstens die Augen schützen können. Um die Brille herum war alles rot. Dunkelrot, etwas geschwollen und an einigen Stellen traten kleine Brandblasen hervor. Auch das Gesicht des Nachbarn hatte Soße abbekommen, wobei dort der Reis die größeren Spuren hinterlassen hatte, einige Reiskörner sahen aus, als hätten sie sich in die Haut gegraben. So blieb Udo jetzt einige Zeit liegen, biss die Zähne zusammen und fuhr seinen Nachbarn grimmig an:
»Ein einfaches Nein, koche woanders, hätte es auch getan. Verdammt was hast du gemacht, war das nötig?«
Paul verstand nicht, war sich keiner Schuld bewusst und antwortete ebenfalls angesäuert: »Ich? Ich hab gar nichts gemacht, aber dein Mittagessen fällt scheinbar unter das Kriegswaffenkontrollgesetz.«
Einige Sekunden kämpfte er gegen sein Verlangen dem vor ihm liegenden Terroristen einige Ohrfeigen zu verpassen. Der schien aber gestraft genug, wischte die Soße aus seinem Gesicht und versuchte aufzustehen, wirkte dabei wie eine umgekippte Schildkröte, wollte zuerst die Hand, die ihm sein Nachbar entgegenhielt nicht annehmen und griff dann doch zu. Paul half Udo gerade beim Aufstehen, als es an der Wohnungstür klopfte. Kurz darauf wurde mehrfach die Klingel betätigt und wieder geklopft.
»Paul!? Was ist passiert?«, Sabines laute Stimme klang besorgt.
Udo hatte sich derweil am Spülbecken weiter hochgezogen und stand nun dort schwankend und leicht vornübergebeugt. Paul schleppte sich an ihm vorbei aus der Küche zur Wohnungstür und öffnete. Mit weit aufgerissenen Augen musterte die Blondine ihren Nachbarn, drückte sich unaufgefordert an ihm vorbei in die Küche und fand dort auch Udo. In ihrem Gesicht zeichnete sich das blanke Entsetzen ab, sie ging auf den Rocker zu, betrachtete sich sein Gesicht, drehte sich um die eigene Achse, deutete dabei auf die Schränke, Tapete und den Fußboden. Sie schien wirklich fassungslos zu sein.
»Was ist denn passiert? Es klang nach einer Explosion... baut ihr heimlich Bomben?«, fragte sie leise.
»Udo hat gekocht!«, gab Paul süffisant zurück.
»Soll ich einen Arzt rufen?«
»Nee, lass mal, ich geh erstmal kurz ins Bad und guck im Spiegel, ob ein Arzt nötig ist«, Udo hatte mit leiser krächzender Stimme geantwortet und tastete sich nun am Spülbecken und an der Wand entlang an Paul vorbei ins Bad.
»Echt, seid ihr nicht ganz dicht, wie kann sowas beim Kochen passieren, was habt ihr gekocht? Schwarzpulver?«
Paul erzählte ihr in wenigen Worten, was passiert war. Lachen konnte Sabine darüber nicht, sie schüttelte nur fortwährend den Kopf.
»Das gibt es nicht, ich fragte mich ja immer, für wen sie auf der Verpackung von Fertigpizza schreiben ›Plastikfolie entfernen‹, jetzt weiß ich es. Mir wird auch gerade klar, warum die meisten Männer kurz nach ihren Frauen sterben!«
Pauls Gesichtsausdruck verriet, dass er kein Wort verstanden hatte.
»Weil die Männer dann versuchen zu kochen und was dabei herauskommt, sieht man ja. Mensch, man darf das Zeug halt einfach nicht ewig kochen, ist doch klar, dass das irgendwann mal platzt!«, erklärte Sabine ihre vorherigen Ausführungen.
»OK, war mir nicht klar«, entgegnete Paul und entschuldigte sich gleichzeitig: »Ich habe das ja auch nicht verzapft.«
Aus dem Bad klangen Töne, die darauf schließen ließen, dass Udo sein Gesicht mit Wasser kühlte. Immer wieder wurde das Geräusch des laufenden Wassers durch Fluchen und Jammern unterbrochen.
»Mach mal Platz, ich muss auch ran!«
Paul hatte Sabine in der Küche zurückgelassen und betrat nun ebenfalls sein Badezimmer und begann damit sich Wasser in sein Gesicht zu schaufeln.
»Meine Güte was Chaoten, das sollte man filmen, denn erzählen kann man es ja keinem.«
Einige Minuten ging es nun mit dem Kühlen und Abwaschen so weiter. Hin und wieder wurde für einen Blick in den Spiegel das Jammern unterbrochen und durch Fluchen ersetzt.
»Ja, ist gut jetzt! Arzt, Krankenhaus oder daheimbleiben?«
Udo antwortete als Erster: »Also ich erzähl das keinem, Wund- und Heilsalbe sollte reichen.«
»Du, Paul?«, Sabine sah Paul fragend an.
Der lachte. »Nein, lass mal, wenn ich das jemandem erzähle, hab ich das Überfallkommando im Haus, das glaubt doch keiner.«
»Also gut, dann leckt euch mal die Wunden, und wenn ihr mich braucht, ich bin drüben«, damit verließ Sabine Pauls Wohnung, wie sie diese betreten hatte, kopfschüttelnd.
»Du Paul ich geh hoch, pack mir Salbe drauf und geh ins Bett, Hunger hab ich grad nicht mehr.«
»Das versteh ich gut, melde dich, wenn was ist!«
»Mach ich!«
So verließ auch Udo die Wohnung und ließ Paul in seinem Unglück und mit der Küche, die aussah wie nach einem Attentat, zurück. Nach all dem Kühlen und Abwaschen war klar, Paul hatte es nicht halb so schlimm erwischt wie seinen Nachbarn Udo. Drei rote, brennende Flecken im Gesicht und ein großer roter Fleck über den halben rechten Unterarm, das war zu ertragen und mit etwas Heilsalbe zu lindern. Der Schaden in der Küche war ebenfalls schnell behoben, der Herd und die Schränke gesäubert. Die Tapete reinigte er mit einem kleinen Schwamm und Spülmittel. Das ging besser als gedacht, aber er nahm sich trotzdem vor, bei nächster Gelegenheit mit etwas Farbe drüber zu gehen. Mit dem Wischmob wurde zweimal der Boden gewischt und die Spuren des Kochterroristen waren beseitigt. Duschen musste jetzt sein, denn hinten hatte er keine Augen und wollte nicht den ganzen Tag mit Hühnerfrikassee in den Haaren herumlaufen. Frische Klamotten legte er im Bad zurecht, warf die getragenen Sachen auf den Boden und stieg in die Dusche.
Das tat gut, trotz der Wasserkosten, duschen musste man genießen, nicht zu kurz und vor allem nicht zu kühl. Es durfte ruhig schön dampfen und schäumen. Mit einer Duschbürste ausgiebig den Rücken schrubben, mit einem rauen Schwamm die Beine, Bauch und Brust abreiben. Andere Körperstellen in südlicher Region sparte er aus, auch den leicht verbrannten Unterarm und das Gesicht wusch er sich nur mit den Händen. Auch die Haarpflege war ihm sehr wichtig, billiges Shampoo kam ihm nicht ins Haus. Sparen? Gerne! Aber nicht bei der Körperpflege und schon gar nicht, wenn es darum ging, seine Haare zu erhalten. Seitdem er gelesen hatte, dass es normal war, sechzig Haare am Tag zu verlieren, kämpfte er um jedes Einzelne. Mit Halbglatze oder mit einer Stirn bis zum Genick wollte er nicht so bald herumlaufen müssen. Nach dem Duschen und vor dem Abtrocknen wurde die Duschkabine mit einem Abzieher getrocknet, die Armaturen mit seinem Handtuch abgerieben und erst danach ausgestiegen. Ordnung musste sein! Fertig angezogen, geföhnt und gebürstet, griff er sich die Schmutzwäsche, holte aus dem Schlafzimmer seinen Wäschekorb und betrat auf dem Weg zur Waschküche den Hausgang. Paul lief gerade auf die Stufen, die zur Haustüre und zur Kellertüre führten, zu, als die Haustür aufgedrückt wurde und ein älterer Herr hereingehumpelt kam. Paul ließ dem Alten den Vortritt und wartete oberhalb der Stufen, bis der sich hoch und an ihm vorbei gequält hatte. Oben angekommen bedankte sich der Alte und klingelte bei Sabine. Paul kümmerte sich nicht weiter darum, lief die Treppe hinunter, öffnete die Kellertüre und ging weiter zur Waschküche.
7. Horizontales Gewerbe
Für heute lag nichts weiter an und so wartete er beim Fernsehen, dass die Waschmaschine ihre Arbeit erledigt hatte und er den Wäschetrockner starten konnte. Ja, er wusste, dass er eigentlich mehrmals hätte waschen müssen. Handtücher extra, Jeans extra, T-Shirts extra, aber er bekam in einer Woche gerade mal die Füllung für zwei Maschinen zusammen. Was hätte er da sortieren sollen? In der Glotze gab es nichts Besonderes, wie eigentlich immer, und deshalb blieb er wieder auf dem Dokukanal hängen. Krabbenfang vor Kanada, wenig spannend, noch weniger lehrreich, aber immerhin verstrich die Zeit. Die Maschine musste fertig gewaschen haben. Paul drückte sich von der Couch hoch, schaltete den Fernseher direkt am Gerät aus und legte die Fernbedienung daneben. In der Waschküche wurde die Wäsche von der Waschmaschine direkt in den Trockner gestopft und das Programm gestartet.
Als er gerade wieder die Stufen zu seiner Wohnung hochging, wurde Sabines Wohnungstür geöffnet, der Alte trat heraus und mit einem »Danke, bis zum nächsten Mal!« schloss er die Tür wieder. Paul sah ihn verdattert an, der ältere Herr lächelte ihn an und verließ das Haus. Etwas nachdenklich betrat Paul seine Wohnung, startete seine Kaffeemaschine und war kurz darauf mit einer Tasse auf dem Weg ins Wohnzimmer, als er draußen wieder ein Läuten hörte. Vorsichtig öffnete er seine Tür, so dass er mit einem Auge hinaussehen konnte. Wieder hatte Sabine die Tür aufgezogen und wieder betrat ein Kerl ihre Wohnung, diesmal war es ein dicker Mittfünfziger mit Glatze und Stoppeln im Gesicht. Da stimmte doch etwas nicht!?
Vorhin hatte er noch gedacht, dass der erste Alte Sabines Vater gewesen sein musste, aber zwei Väter wird auch sie nicht haben, dachte er und wollte der Sache auf den Grund gehen. So wartete er, bis seine Wäsche fertig war, hastete in den Keller, räumte die Wäsche vom Trockner in seinen Wäschekorb und beeilte sich wieder in seine Wohnung zu kommen. Er wäre zu gerne Mäuschen gewesen und er überlegte tatsächlich, ob er nicht wieder einen Blick durch ein Fenster in die Nachbarswohnung werfen sollte. Aber alleine beim Gedanken daran schmerzte es derart im Unterleib, dass er diese Idee schnell verwarf. So blieb er die ganze Zeit an seiner Tür stehen, zog sie hin und wieder leise auf, schaute eine Weile hinaus und schloss sie wieder. Etwa eine Stunde nachdem der Glatzkopf Sabines Wohnung betreten hatte, sah Paul durch den Spalt, dass dieser dicke Kerl aus der Wohnung trat. Mit einem knallroten Kopf, aber scheinbar sehr entspannt verabschiedete er sich mit einem »Bis demnächst« und verschwand.
Paul wurde schlagartig übel. Das konnte doch nicht wahr sein, warum musste ihm das passieren, warum Sabine, das hätte er ihr nicht zugetraut. Er hatte sich verliebt, ja das musste er sich eingestehen, aber in wen? War Sabine eine Prostituierte? Verdiente sie in ihrer Wohnung ihr Geld und war Peter ihr Zuhälter? Zu Peter hätte das allemal gepasst. Was sollte er machen, er konnte schlecht bei Sabine klingeln und fragen, ob sie Sex für Geld anbieten würde. Er brauchte schleunigst eine Idee, wie er Gewissheit erlangen konnte. Dieser Gedanke durfte nicht bleiben, der musste heraus aus dem Kopf oder Sabine musste raus aus seinem Herzen. So würde er die nächsten Tage sicher kein Auge zubekommen.
Er brauchte jetzt dringend Nikotin, griff sein Päckchen, seinen Wohnungsschlüssel und stellte sich im Hof auf die Treppe. Aus seinem Zigarettenpäckchen zog er sein Feuerzeug und zündete sich eine an. Beruhigend wirkte die Zigarette nicht wirklich, er hatte einfach zu viele schlechte Gedanken. Konnte das wirklich wahr sein? Diese kleine, süße, nette Person sollte ihren Körper für Geld an so alte Knacker verkaufen? Das durfte nicht wahr sein, auch wenn alles, was er gerade gesehen hatte, absolut dafür sprach. Er dachte auch wieder an die Szene, die er durch das Fenster beobachtet hatte. Sollte Farhad mehr wissen, hatte er vielleicht auch einfach dafür bezahlt und das alles für sich behalten? Wenn man vom Teufel sprach oder auch nur an ihn dachte.
Paul hörte hinter sich Schritte und durch die offene Hoftür kam Farhad auf ihn zu.
»Na, hast du Zeit? Würde mich auf einen Cappuccino einladen lassen!«
»Nein, habe ich nicht!«, damit schnippte Paul die Zigarette in den Hof, ging wortlos an seinem Nachbarn vorbei, schloss seine Wohnung auf und schmiss die Tür nach dem Betreten ins Schloss.
Auf solche Freunde konnte er echt verzichten. Nicht nur, dass er Sabine wahrscheinlich flachgelegt hatte, nein er hatte auch noch dafür bezahlt und was am schlimmsten war, er hatte ihm, seinem angeblichen Freund, nichts davon gesagt. Ihm war zum Heulen, er fühlte sich betrogen. Er fühlte sich betrogen von Sabine, aber auch von Farhad. Diesmal half kein Cappuccino, er öffnete den Kühlschrank, nahm eine Flasche Hefeweizen heraus, griff sich aus dem Hängeschrank ein Weizenglas und bewegte sich hastig in Richtung Wohnzimmer und Couch. Heute wollte er sich einfach richtig wegsaufen. Als er gerade Bierflasche und Glas auf dem Tisch abgestellt hatte und sich setzen wollte, klingelte es an der Tür. Na der traute sich was, hatte Farhad echt nicht gemerkt, dass er gerade keine Lust darauf hatte sich mit ihm zu umgeben?
»Ich habe keine Zeit und keine Lust, lass mich in Ruhe!«, rief er der geschlossenen Tür entgegen.
Ok, so wollte er das alles dann doch nicht stehen lassen, also ging er auf seine Wohnungstür zu, öffnete einen Spalt und wollte Farhad seine Meinung geigen. Aber da draußen stand nicht Farhad, sondern Sabine und die lächelte ihn an. Auch das noch, was sollte er jetzt tun? Ein Lächeln wollte nicht gelingen und Paul sah die kleine Blonde mit verzerrtem Gesicht an und fragte:
»Brauchst du Zucker?«
Sabine antwortete: »Nein, wollte nur nachsehen, wie es dir geht nach dem Unfall vorhin.«
»Mir geht es soweit ganz gut.«
Sabine sah Paul besorgt an und fragte direkter: »Scheinbar ist dir Udos Kochkunst aber auf die Stimmung geschlagen, hast du Schmerzen oder ist es wegen deiner Küche?«
»Nein, alles gut! Ich bin an sich etwas genervt heute. War ja in den letzten Tagen alles etwas viel.«
Seine Nachbarin stand ihm gegenüber und sah ihn mitleidig an.
»Was ist, lässt du mich rein?«
Paul überlegte, eigentlich hätte er am liebsten die Tür zugeworfen und sich danach sinnlos betrunken, aber irgendwie brachte er das nicht fertig. Ja, er war trotzdem verliebt und diese Erkenntnis schmerzte. Da stand die Frau, die ihm gerade alles bedeutete und für die er alles getan hätte und er wusste, wie sie ihr Geld verdiente. Was sollte er sagen, sollte er überhaupt etwas sagen, sollte er sie direkt darauf ansprechen?
»Wenn du lieber deine Ruhe willst, dann sag es! Mein letzter Kunde ist gerade weg und ich bin fertig für heute. Dachte, du hast sicher heute keine Lust mehr dir was zu kochen und wir bestellen uns etwas?«
Sehr gut, sie sprach es selbst an? Wie sollte er jetzt reagieren? Er brauchte Zeit, er musste überlegen und so drückte er die Tür ganz auf und sagte:
»Ja, dann komm erst mal rein. Wollte mir gerade ein Bier aufmachen, willst du auch eines?«
»Klar, gerne!«, grinste ihn Sabine an, ging an Paul vorbei ins Wohnzimmer und setzte sich dort auf die Couch. Paul holte aus der Küche noch ein Hefeweizen und ein Glas. Setzte sich neben Sabine und überlegte, wie er auf das Wort »Kunde« reagieren sollte. Aber Sabine kam ihm da entgegen:
»Wie schaust du denn?«
Paul atmete kurz durch und fragte: »Du hast Kunden, was verkaufst du denn?«
Sabine lachte: »Ich bin sozusagen im horizontalen Gewerbe«, lachte noch lauter und bemerkte Pauls erschrockenen Gesichtsausdruck. »Oh je, wollte dich nicht schocken. Nicht ich liege, sondern meine Kunden. Ich bin ausgebildete Physiotherapeutin, eine Praxis kann ich mir nicht leisten, daher massiere ich zuhause.«
Paul hatte Angst, dass sein Gesichtsausdruck ihn nun verraten würde, denn er strahlte über das ganze Gesicht. Tonnenschwere Steine rollten ihm vom Herzen und er glaubte sich eine spontane Gesichtslähmung eingefangen zu haben. Natürlich bemerkte seine Nachbarin den Stimmungswechsel, aber einordnen konnte sie ihn nicht.
»Was grinst du jetzt so?«
»Ich grinse? Ach ich finde das nur sehr interessant, was machst du so als Physiotherapeutin?«
Sabine sah Paul fragend an, der grinste aber einfach weiter.
»Ich kann hier eigentlich nur Massagen anbieten und den Leuten leichte Übungen zeigen, die sie auch zu Hause nachmachen können.«
»Wie sieht so eine Massage aus?«, wollte es Paul jetzt genau wissen.
»Bist du noch nie massiert worden?«, Sabine reckte Paul ihre Hände entgegen und knetete mit der rechten Hand ihre linke Faust.
»Ich? Nein bisher nicht! Was kostet das denn?«
Seine Nachbarin spitzte die Lippen und schaute fast schüchtern nach oben. »Eine Stunde würde ich dir direkt schenken, wenn du magst!?«
Paul grinste nicht mehr und wurde stattdessen knallrot. »Nackt?«
Sabine antwortete lachend: »Angezogen komm ich schwer an die verspannten Muskeln, aber deine Hose darfst du, oder besser sollst du, ruhig anlassen.«
»Wann hättest du denn Zeit?«, beinahe ungeduldig und mit großer Vorfreude hoffte Paul auf ein »Jetzt!«. Bekam aber stattdessen die Antwort:
»Mal sehen, lass uns erstmal was bestellen und dann sehen wir weiter.«
Paul kramte in einer Schublade und zog einen Flyer seines Lieblingspizzalieferanten hervor.
»Pizza, Nudeln, Sandwich, Döner, was magst du am liebsten?«
Sabine überlegte kurz und gab zurück: »Also, ich hab richtig Hunger. Eine große vegetarische Pizza, wäre gut!«
»Dann lade ich dich ein und nehme auch eine Vegetarische!«
Paul nahm das Mobilteil von der Station, wählte die Nummer vom Flyer und bestellte. Danach befüllte er die Weizengläser, gab seiner Nachbarin eines der Gläser in die Hand und sie stießen an. Sie redeten über Sabines Job, über die Kunden, über die Bezahlung und über Sabines Traum von einer eigenen Praxis.
»Machst du Werbung?«
Sabine sah Paul mit zusammengekniffenem Mund an. »Das habe ich einmal gemacht und habe deswegen immer noch Probleme.«
»Wie, du hast Probleme wegen Werbung? Ist es nicht normal so, dass man eher Probleme hat, wenn man sich Werbung nicht leisten kann?«
»Ja Paul, das ist so einfach wie völlig daneben. Ich habe in der Zeitung Werbung geschaltet und leider haben die da was falsch verstanden.«
»Was ist passiert?«, fragte er mit einem Augenzwinkern.
»Ich habe mit dem Text ›Private medizinische Massage‹ geworben. Das ›medizinische‹ wird leider an der Stelle, an der die Zeitung das Inserat platziert hat, gerne überlesen.«
Paul verstand nicht wirklich, daher erklärte Sabine ihr Problem genauer:
»Die haben mein Inserat hmm, ja wie will ich sagen, in die Rubrik ›sexuelle Dienstleistungen‹ gepackt. Das hat natürlich einige unschöne und peinliche Telefonate nach sich gezogen. Der ein oder andere fragte dann auch während der Massage, ob mehr geht.«
Paul sah die kleine Blondine fragend an: »Aber da geht natürlich nicht mehr!?«
»Halloho, Paul was denkst du von mir?«, blitzte ihn Sabine dabei mit zugekniffenen Augen an.
»So war das echt nicht gemeint Sabine!«
In diesem Moment wurde Paul von seiner Klingel aus dieser Situation gerettet. Beide standen auf, Paul öffnete und nahm die Pizzen entgegen, bezahlte und verzichtete dankend auf den Gratiswein.
»Warte, ich hole eben noch Teller und Besteck.«
Sabine verzog das Gesicht und gab zurück: »Seh ich echt so aus, als ob ich für Pizza Besteck bräuchte? Der Karton reicht absolut. Warum sollten wir unnötig Teller einsauen!?«
»Ach herrlich diese Frau!«, Paul hatte den Satz laut ausgesprochen, seine Nachbarin merkte, dass das nicht seine Absicht gewesen war, und legte lachend den Arm um seine Schulter.
»Ein echter Kumpel wie? Schade, dass ich eine Frau bin, wie!?«, Paul lachte an dieser Stelle nicht mit, was Sabine sofort auffiel.
»War nicht so gemeint! Los, lach mal!«, sprach sie ihn wieder an und lockerte damit die Situation wieder auf.
8. Sabine
Die vegetarische Pizza war sogar noch heiß angeliefert worden und man konnte sie wirklich essen. Paul achtete sehr genau darauf, einen guten Eindruck zu machen. Er kaute jeden Bissen etwa so lange wie Sabine auch, so dass er beim Essen keinen Vorsprung hatte. Beim Hefeweizen war er etwas schneller, aber das konnte ja unmöglich negativ gesehen werden. Für eine Frau hatte auch Sabine einen ganz guten Zug drauf. Sie unterhielten sich über ihre Berufe, über Pauls Familie, über die Nachbarn im Allgemeinen und über Udo und den Unfall im Besonderen. Sie lachten und hatten richtig Spaß. Die Pizza wurde komplett aufgegessen und die Pappkartons von Paul in die Küche geräumt.
»Trinkst du noch eins mit?«, Paul hatte den Kühlschrank geöffnet und schon zwei Flaschenhälse in seine Finger geklemmt.
»Klar warum nicht, wenn du noch hast!«
Paul hatte noch genug Bier zuhause, daran sollte es also nicht scheitern. Er goss beide Gläser wieder voll und lächelnd übergab er Sabine ihr Glas. Beide lehnten sich zurück und Paul erfuhr jetzt, wie sich Sabine und Peter kennenlernten, dass es eine Fernbeziehung war, dass Peter als Vertreter eigentlich Fitnesstrainer war, aber für einen Nahrungsergänzungsmittelhändler durch Deutschland fuhr und die Produkte an kleine Fitnessstudios verkaufte. Vor allem aber, dass er immer topfit aussehen musste, denn sonst verkaufte er nichts. Dieses Aussehen erreichte er aber nicht durch die von ihm verkauften Supplements, sondern weil er nebenher noch andere Präparate einschmiss. Diese wiederum würden dazu führen, dass er zwar einen tollen Körper hatte, aber sehr schnell aufbrauste und auch sonst körperliche Probleme hätte. Auf Nachfrage ihres Gegenüber ging Sabine ins Detail:
»Hm, na ja, es gibt eben Stellen, auf die solche Medikamente eher negativ wirken. Sexuell lief also schon lange nichts mehr und an kuscheln oder einfach einen schönen Fernsehabend war nicht zu denken.«
Dafür war ihr Exfreund zu angespannt oder zu nervös. Er entspannte nur, wenn er privat in einem Studio trainierte. Dort konnte er sich abreagieren und war auch danach erträglicher als vorher. Sabine hatte schon eine ganze Zeit überlegt, wie sie Peter erklären konnte, dass sie die Beziehung so nicht weiterführen wollte. Ja und ihr war es sehr recht, dass nun Peter von sich aus Schluss gemacht hatte. Sie, Sabine wäre zwar eigentlich sehr locker und kumpelhaft, aber auch sie würde nun mal nicht jünger und sie würde eben eine Beziehung wollen, bei der sich beide aufeinander verlassen konnten. Paul hörte interessiert zu, nickte verständnisvoll und klopfte ihr hin und wieder auf die Schulter. Das zweite Weizenbier war geleert, er deutete auf die leeren Gläser, Sabine nickte und Paul besorgte Nachschub.
Alkohol lockerte die Zunge, ja das war bekannt, seine kleine Nachbarin redete und redete, Paul kam nicht mehr zu Wort und mimte den verständnisvollen Zuhörer. Selbst als sie anfing darüber zu reden, dass sie mit knapp fünfundzwanzig an Heirat dachte, dass sie, bevor sie dreißig wäre, gerne Kinder oder zumindest ein Kind hätte, wurde er zwar leicht rot, aber nickte verständig. Paul reichte Sabine das vierte Weizen und sie erzählte, dass sie doch bloß jemanden bräuchte, der einfach da ist, der ihr zuhörte, der sie mal in den Arm nahm und nicht wie Peter einfach auftauchte und schlechte Laune verbreitete. Sabine begann zu weinen und lehnte sich an Paul. Auch jetzt hörte sie nicht auf zu sprechen. Sie erzählte, dass alle ihre Bekannten in ihrem Alter längst feste Partner hatten, einige sogar Kinder und sie sich immer alleine fühlte.
»Mach mal Musik an, mir ist jetzt grad danach!«, sprach sie Paul nun direkt an. Der stand auf, ging zu seiner Anlage und an das CD-Regal.
»Was würdest du gerne hören?«
»Mach was Langsames und Ruhiges an bitte«, Sabine sah ihn mit verweinten Augen an. Für ihre Stimmung hatte er das Richtige. Er zog seine Kuschelrock-CD aus dem Regal, legte die CD ein, drückte die Playtaste und setzte sich wieder zu seiner blonden Traumfrau. Während Roxettes »It Must Have Been Love« und den nächsten Liedern, kotzte sich Sabine nun richtig über ihren Beziehungsstress aus. Sie weinte und lächelte im Wechsel, rückte näher an Paul heran und bei »You Make Me Feel« von Bonfire, drehte sie sich herum und lehnte sich so an ihren Nachbarn, dass der sie in den Arm nehmen musste, wenn er sie nicht von der Couch fallen lassen wollte.
Schlagartig war sie still, sie redete nicht mehr und kuschelte sich einfach an ihn. Für Paul eine völlig verwirrende und trotzdem sehr schöne Situation. Er genoss ihre Nähe und den Geruch ihrer Haare und begann sie sogar zu streicheln. Er strich über ihr Haar, über ihre Arme und streichelte, während er mit einer Hand ihren Hinterkopf hielt, mit dem Daumen ihre Wange. Die ersten Töne von »Nights in White Satin« erklangen. Plötzlich drückte sich Sabine hoch und Paul dachte schon, das wäre es gewesen und seine Nachbarin würde sich nun verabschieden wollen. Aber weit gefehlt, sie drehte sich zu ihm, legte ihren linken Arm um seinen Hals und drückte ihre Lippen an seine. Paul erschrak und wollte zuerst den Kopf wegziehen, aber dazu hatte er keine Gelegenheit mehr. Sabine hielt jetzt mit beiden Händen seinen Kopf, öffnete ihre Lippen und leckte über Pauls geschlossenen Mund, sah hoch in seine erschrockenen Augen und machte einfach weiter. Paul öffnete nun auch mehr oder weniger gezwungenerweise seine Lippen und genoss Sabines Zunge.
Sie drückte ihn nach hinten, bis er auf der Couch zum Liegen kam, setzte sich auf ihn, beugte sich nach unten und küsste einfach weiter. »Unchained Melody«, was würde passieren, das letzte Lied der CD lief und er hatte vergessen, auf Repeat zu stellen. Sabine griff hinter sich und Paul merkte plötzlich, dass sie sich an seinem Gürtel zu schaffen machte. Er hatte keine Möglichkeit zu reagieren und ließ alles über sich ergehen. Seine Hose war geöffnet und Stille. Die verdammte Musik war aus! Sabine nahm ihre Hand weg, löste ihre Lippen von Paul, erhob ihren Oberkörper und saß da.
Paul hätte heulen können, sollte es das jetzt gewesen sein? Er sah Sabine an, die grinste zurück, zwinkerte ihm zu und sprang von ihm herunter. Womit hatte er das verdient, verdammt so weit war er noch nie gekommen, das konnte unmöglich so beendet werden. Sabine drehte ihm den Rücken zu und stand kurze Zeit nur da, dann sah sie ihn über die Schulter an, lachte, zog sich das Shirt aus und warf es über sein Gesicht. Er riss das Shirt weg und sah, dass sie sich die Hose heruntergezogen hatte. Sie stand auf dem rechten Bein und versuchte ihre Jeans über den linken Knöchel zu ziehen, verlor dabei das Gleichgewicht und landete laut lachend auf ihrem Hinterteil. Sie schrie kurz auf, schaffte es dann, die Hose komplett loszuwerden, und warf sie ebenfalls in Pauls Richtung. Jetzt saß sie in Unterwäsche vor ihm, ein herrlicher, atemberaubender Anblick. Sabine stand auf, drehte Paul wieder ihren Rücken und was noch viel schöner war ihren Po entgegen. Nur ein String, Paul konnte nicht mehr wegsehen, wie gerne wäre er jetzt aufgesprungen und hätte diesen herrlichen Apfelpo angefasst und durchgeknetet, aber das getraute er sich noch nicht. Er setzte sich langsam auf, legte Sabines Shirt und Hose neben sich, als ihm das nächste Kleidungsstück entgegenflog. Er packte zu und war begeistert, es war ihr schwarzer Büstenhalter. Er drehte ihn vor sich und besah sich das Stück aus Spitze genau, als ihn wieder ein Stoffteil im Gesicht traf. Die Kleidung interessierte ihn jetzt nicht mehr, mit offenem Mund und großen Augen sah er Sabine an, die jetzt komplett nackt vor ihm stand. Mit dem rechten Arm bedeckte sie ihre Brüste und die linke Hand hielt sie vor ihr Dreieck. Mit einem:
»Kommst du mit?«, rannte sie auf die Schlafzimmertür zu, hielt sich kurz am Türgriff fest, zog sich die Strümpfe aus, warf sie hinter sich und traf wieder Paul. Der war aufgesprungen und folgte Sabine hastig. Als er das Schlafzimmer betrat, war Sabine gerade unter der Decke verschwunden. Er ließ das Licht an, schloss die Tür und kroch ebenfalls unter die Decke.
Samstag, 7:40 Uhr.
Das erste Gefühl, als er erwachte, war ein Ziehen und Brennen im Gesicht und am Unterarm. Das nächste Gefühl, wohlige Wärme und nackte Haut an seinem Körper. Die kleine Blondine lag vor ihm und drückte ihren verlängerten Rücken nach hinten, ihr Kopf lag auf seinem linken Arm, während er den rechten um sie gelegt hatte und ihre Brust festhielt. Nein, aufstehen wollte er noch nicht, das Gefühl musste genossen werden. Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren, bis er wieder einschlief.
Samstag, 10:25 Uhr.
Wieder dieses Brennen, da musste jetzt Salbe oder zumindest erst mal reichlich kaltes Wasser drauf. Er schlug die Augen auf und war alleine im Bett, dass er nicht geträumt hatte, war ihm sofort klar. Denn erstens hatte er so intensiv bisher eher selten geträumt und zweitens roch die Decke, das Kissen und irgendwie der ganze Raum nach Sabine. Aber wo war sie? Hatte sich seine Nachbarin einfach davongestohlen, war es ihr vielleicht sogar peinlich, würde sie sich wieder melden und war sie jetzt seine Nachbarin oder seine Freundin?
Er stieg aus dem Bett, stellte fest, dass er von den Bieren leicht benebelt war und schwankte nackt in die Küche. Den ersten Cappuccino trank er im Stehen, direkt vor der Maschine und stellte danach die leere Tasse auf das Abtropfteil seiner Spüle. Aus dem Schlafzimmer holte er frische Unterwäsche und aus seiner Schreibtischschublade die Wund- und Heilsalbe. Danach betrat er sein kleines Bad, packte Unterwäsche und Salbe auf den kleinen Schrank unter seinem Waschbecken, warf ein Handtuch über die Duschwand und stieg in die Dusche. Heute ließ er sich nicht so viel Zeit, er wollte Sabine nicht verpassen, die ja jederzeit klingeln konnte. So beeilte er sich, schäumte seine Haare ein, wusch sich den Körper wie immer und begann damit den Intimbereich zu säubern.
Was war da los?
Was für ein luziferartiger Schmerz. Die kleinste Berührung an seiner Vorhaut und er hätte an die Decke gehen können. Er drehte das Wasser ab und widmete sich jetzt ganz seinem kleinen Freund. Langsam zog er die Haut zurück und wunderte sich über das Blut dahinter. Sie würde doch nicht ihre Tage gehabt haben, an eine Defloration glaubte er dann doch nicht. Er drehte das Wasser wieder an, tupfte seinen Freund mit dem Schwamm ab und stellte fest, dass der Schmerz beinahe ganz verschwunden war. So kümmerte er sich nicht weiter darum, stieg nachdem er sich noch einmal abgeduscht und die Kabine trocken gerieben hatte aus der Dusche und trocknete sich ab. Vor dem Spiegel verteilte er die Heilsalbe auf die jetzt dunkelroten Flecken im Gesicht und auf dem Arm. Beim Überziehen seiner Unterhose schmerzte sein bestes Stück wieder etwas, was er aber schnell verdrängte und sich weiter anzog. Kurz mit der Bürste durchs Haar und etwas Parfüm aufs Shirt gesprüht, so konnte er das Bad verlassen. Paul legte gerade die Salbe zurück, als es leise an der Tür klopfte. Er rannte beinahe, um sie zu öffnen, und ja, vor der Tür stand seine kleine Traumfrau. Sie trug lediglich ein langes weißes T-Shirt, war barfuß und hatte ganz offensichtlich auf ihren BH verzichtet. In ihrer Hand hielt sie ein Körbchen mit geschnittenem Brot.
»Wenn du mir das abnimmst, dann würde ich den Rest rüber holen oder hast du keinen Hunger!?«
Nein eigentlich hatte Paul direkt nach dem Aufstehen nie Hunger, aber er griff sich ohne ein Wort das Körbchen, sah Sabine in ihr hübsches Gesicht, wanderte mit den Augen über ihre abstehenden Brustwarzen und erfreute sich am Wippen ihrer großen Brüste, als sie sich herumdrehte um in ihre Wohnung zurückzugehen. Auch das Wackeln der Rückseite war einige genauere Blicke wert. Erst als seine, jetzt wohl »Freundin« in ihrer Wohnung verschwunden war, drehte sich auch Paul um und wollte das Brotkörbchen im Wohnzimmer auf dem Tisch platzieren. Das ließ er aber dann doch bleiben, denn der Tisch war noch nicht abgeräumt, Gläser und Flaschen standen dort herum, Sabines Höschen hing aus einem Bierglas, die Jeans lag auf der Couch und der BH hing über dem CD-Regal. Sie hatte sich also lediglich das Shirt übergeworfen, um durch das Treppenhaus zu laufen. Sabine stand jetzt hinter ihm, hatte Teller und Besteck dabei.
»Hier, nimmst du mir das auch grad mal ab!?«
Paul nahm die Teller entgegen, Sabine legte das Besteck darauf und verschwand wieder. Paul stellte also alles zunächst auf dem Küchentisch ab und begann die Flaschen aus dem Wohnzimmer in den Bierkasten zu räumen. Sabines Höschen ließ er sich durch die Finger gleiten und steckte es sich in seine Hosentasche. Ihre Jeans faltete er liebevoll zusammen, rollte die Strümpfe ineinander und legte sie wie den BH auf die Jeans. Mit den beiden Biergläsern betrat er die Küche und stellte sie in das Spülbecken. Sabine hatte den Tisch schon gedeckt, war aber wohl wieder in ihrer Wohnung. Das sah wirklich toll aus, auf jeder Seite ein Teller mit Besteck, in der Mitte stand das Körbchen mit dem geschnittenen Brot, dahinter hatte Sabine Marmelade, Butter und verschiedene, sicher vegetarische, Brotaufstriche abgestellt. Auf einer größeren Platte hatte sie in Scheiben geschnittenen Käse und Trauben drapiert und zwischen dem Körbchen und der Käseplatte flackerte eine Kerze. Sie hatte sich sichtlich Mühe gegeben.
Er überlegte, ob er schnell noch die Gläser spülen sollte, hörte aber, dass die Wohnungstür zugedrückt wurde, ließ es bleiben und setzte sich erwartungsvoll auf einen der Stühle. Sabine betrat die Küche, in einer Hand hielt sie zwei langstielige Gläser und in der anderen eine Flasche Sekt, stellte alles auf dem Tisch und setzte sich Paul gegenüber.
»Ich wollte mich für den Abend bedanken!«
Paul antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Du dich bedanken? Ich habe zu danken!«, dabei lächelte er sie an.
Sie lächelte zurück und hielt ihm das leere Sektglas entgegen, Paul drückte den Kunststoffkorken hoch und füllte zuerst ihr und danach sein Glas zur Hälfte. Sabine roch an ihrem Glas und hielt es Paul wieder hin, der kam ihr entgegen und beide stießen die Gläser beinahe zärtlich aneinander. Sabine nippte leicht an ihrem Sekt, stellte ihn dann zur Seite und wartete, bis es ihr Paul gleichtat. Kurze Zeit sah sie ihn nur an und lächelte, dann stand sie auf, griff seinen Hinterkopf und drückte ihre Lippen auf seine. Diesmal reagierte er schon schneller und öffnete gleich seinen Mund. Sie hatte es wirklich drauf, er genoss jede Sekunde ihres Kusses.
»Wenn man nicht alles selber macht!«, Sabine lachte, als sie mit diesem Satz den Kuss löste und zu ihrem Stuhl zurückging. Paul merkte wieder ein leichtes Ziehen in seiner Hose, sein kleiner Freund musste sich sehr über den Kuss aufgeregt haben. War der erst mal in Rage, dann wollte er immer mit dem Kopf durch die Wand. Sabine saß wieder und so kehrte auch in Pauls Hose langsam wieder Ruhe ein. Genüsslich wurde gefrühstückt, am Sekt genippt, geschmiert, geschnitten und dabei verliebte Blicke hin und hergeworfen, gesprochen wurde dabei kaum. Gleichzeitig setzten beide die Sektgläser an, um sie geleert abzustellen. Sabine sah ihren Gegenüber an, grinste vielversprechend und hauchte:
»Noch eine Runde?«, worauf ihr Paul sein Glas entgegenhielt und dafür ein schnippisches Lachen erntete. Er verstand nicht so recht, stellte sein Glas wieder hin, nahm die Sektflasche und wollte selbst einschenken, wurde dabei aber von Sabine unterbrochen:
»Hallo, schwer von Begriff?«, dabei war sie aufgestanden, ging zur Tür, hob ihr Shirt hinten hoch und rannte ins Schlafzimmer. Selbst wenn er es nicht verstanden hätte, das schlagartig auftretende Ziehen in der Hose hätte ihn auf die richtige Fährte gebracht. So sprang er auf und rannte hinterher und hätte sie auch beinahe erwischt, wurde aber von ihrem T-Shirt, das ihm ins Gesicht geflogen war, aufgehalten. So schnell hatte er sich noch nie ausgezogen, sprang unter die Decke und griff herzhaft zu. Es wurde geküsst, geschmeckt, gestreichelt und gelacht. Als es ernst wurde, ergriff Sabine die Initiative, setzte sich obenauf und Paul verging zuerst Hören und Sehen und dann auf einen Schlag die Lust. Mitten im schönsten Gefühl spürte er, dass das Brennen an seinem besten Stück immer extremer wurde. Seine Freundin wurde schneller und schneller und als er beinahe Wolke-Sieben erreicht hatte, knallte es. Ja, der Ton erinnerte tatsächlich an das Knallen einer Peitsche, wenn auch um einiges leiser, deutlich hörbar war er allemal. Pauls Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, Sabine öffnete erschrocken ihre Augen und sah ihn an. Paul zog sie von sich herunter und sprang aus dem Bett. Der bis vor kurzer Zeit noch sehr angespannte und aufgebrachte kleine Freund ließ resigniert den Kopf hängen. Blut tropfte auf die Füße darunter und Paul sah Sabine mit immer noch verzerrtem Gesicht fragend an:
»Hast du deine Tage?«
Sabine sah erschrocken aus, schüttelte den Kopf und antwortete: »Von mir ist das nicht!«
Paul rannte in sein Badezimmer und widmete sich dem Unfallopfer. Er stellte sich auf Zehenspitzen vor sein Waschbecken und ließ das kalte Wasser über seinen besten Freund laufen. Der wehrte sich, wollte sich diese Behandlung nicht gefallen lassen und versuchte sich immer mehr in die Bauchhöhle zurückzuziehen. Es blutete noch einige Zeit weiter, das Blut verwässerte, was das Ganze noch schlimmer aussehen ließ. Jetzt war klar, Sabine hatte nicht ihre Tage und bei Männern wurde eine spontane Menstruation bisher auch nirgends beschrieben. Zumindest war ihm diese Problematik bei seinen jahrelangen Internetrecherchen zu diesem Thema ebenso wenig untergekommen wie auf seinem Lieblingsdokumentarsender. Er nahm ein Handtuch, legte es um den verwundeten Kameraden und drückte. So setzte er sich zu Sabine aufs Bett, wo er bedauert, am Rücken und am Bauch gestreichelt und am Nacken geküsst wurde.
»Sabine, bitte grad nicht, sonst …«
Sabine lachte und stellte verständnisvoll alle Zärtlichkeiten ein.
»Heute zum Notdienst oder lieber übermorgen zum Hausarzt?«, fragte sie.
»Ich warte mal ab, vielleicht geht’s ja bald wieder.«
So war es auch, nach kurzer Zeit konnte er das Handtuch in den Wäschekorb werfen und seine Unterhose anziehen, die Blutung war gestoppt. Stundenlang blieben beide im Bett, streichelten und kuschelten, wobei sich Pauls kleiner Freund nun weitestgehend tot stellte. Die frisch Verliebten wollten nicht mehr voneinander lassen und stiegen nur noch, um kurz etwas zu essen, zu trinken oder für einen Gang zur Toilette, aus dem Bett. Ging Paul zur Toilette, konnte er zwar nicht wirklich eine Verletzung ausmachen, aber der Urin brannte höllisch. Jeder Harndrang wurde so zum Bußgang und Paul stelle sich selbst die Frage, ob er entweder der körperlichen Liebe nicht gewachsen oder beim Beziehungsdrama zwischen Hand und Johannes zwischen die Fronten geraten war.
Alles in allem waren die letzten beiden Tage die bisher schönsten in seinem Leben gewesen. Erst gegen Abend verließ Sabine die Wohnung ihres neuen Lovers, sie hatten besprochen, dass während Paul arbeiten musste, jeder in seiner Wohnung übernachten sollte. Erstens würde das Einschlafen gemeinsam viel Zeit kosten und zweitens musste sie ja nicht unbedingt um fünf Uhr von seinem Wecker geweckt werden. Jetzt hätte er am liebsten noch eine Woche Urlaub dran gehängt, aber noch mal beim Chef anrufen, nein das traute er sich nicht. So packte Sabine ihre Klamotten zusammen und Paul brachte sie zur Tür, wo beim Abschied wieder heftigst gefummelt und geknutscht wurde. Paul fasste in seine Hosentasche und zog ihr Höschen hervor.
»Willst du etwa ohne nach Hause, böses Mädchen?«
Sabine hob ihr T-Shirt an und hauchte ihm entgegen: »Dann hilf mir schnell!«
Er traute seinen Augen nicht, seine Freundin reckte ihm vor der offenen Tür, im Hausgang stehend, ihre nackte Kehrseite entgegen, drehte sich wieder zu ihm, so dass er auch auf die Vorderseite freie Sicht hatte. Schnell hielt er ihr ihren String hin. Sie hob erst den linken, dann den rechten Fuß und ließ sich von Paul in ihr kleines Stück Stoff helfen. Danach klammerte sie sich wieder an ihn, um erneut mit dem Küssen zu beginnen. Ihre Verabschiedung wurde durch den Ton schnell näherkommender Schritte von oben aus dem Treppenhaus unterbrochen, so dass Sabine sich löste, winkte und in ihre Wohnung tippelte.
Paul wartete, bis seine Freundin die Tür schloss, um sich ebenfalls zurückzuziehen. Er drückte die Türe zu, legte sich mit dem Rücken dagegen und leckte sich langsam über die Lippen. Ein Traum war für ihn wahr geworden und er schwor sich, alles dafür zu tun, dass dieser Traum nicht enden sollte. Er würde sie auf Händen tragen, ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen, sie verwöhnen und überhaupt immer für sie da sein. Er machte sich natürlich auch Sorgen, würde er ihr überhaupt gerecht werden können, würde er diese Traumfrau halten können, hatte er ihr etwas zu bieten? Vor allem, was würde passieren, wenn dieser Peter wieder auftauchen würde, war diese Geschichte für Sabine wirklich vorbei? Er war schließlich Realist, körperlich konnte er mit ihrem Ex nicht mithalten und würde der eine Konfrontation mit ihm suchen, dann hätte er ihm auch nichts entgegenzusetzen. Paul nahm sich vor, alles erst mal auf sich zukommen zu lassen, zu hoffen und einfach zu versuchen bei Sabine zu punkten, wo es ihm möglich war. Er trank noch ein Glas Leitungswasser, putzte sich die Zähne, stellte den Wecker und legte sich in sein Bett.
Montag, 5:00 Uhr.
Sein Wecker konnte Tote aufwecken und das war auch gut so, denn er fühlte sich wie frisch überfahren. Er drückte den Knopf, rieb sich einige Sekunden die Augen und quälte sich langsam aus dem Bett. Danach schüttelte er die Decke und das Kissen auf, legte alles feinsäuberlich zusammen, griff beim Verlassen seines Schlafzimmers nach seiner Arbeitstasche, die wie immer neben dem Schreibtisch stand, und schlurfte nackt bis auf die Unterhose in seine Küche. Dort stellte er die Tasche auf den Tisch, stellte eine Tasse in die Kaffeemaschine und drückte den Knopf. Das laufende Wasser brachte ihn jeden Morgen zum nächsten Punkt seiner allmorgendlichen »To do Liste« und so betrat er sein Bad, öffnete den Klodeckel und wollte dort, wie jeden Morgen gleich komplett aus seiner Unterhose steigen.
Aber ganz so einfach war das heute nicht. Es klebte, er konnte den Stoff nur mit Mühe und unter Schmerzen von seinem kleinen Freund entfernen. Dieser war entgegen seiner sonstigen Gewohnheit noch nicht erwacht. Hatte er normalerweise um diese Zeit seine liebe Not, den kleinen Teufel in die Richtung zu bekommen, die nötig war, um nicht alles einzusauen, so ließ dieser jetzt den Kopf hängen und gab auch sonst einen mitleiderregenden Anblick ab. Er hing dort schlaff und verschrumpelt in einer »Größe« herunter, die dem Wort spottete. Eingetrocknetes Blut verklebte die Haut und zog sich über die scheinbar leere Pelle bis zum Ansatz. Er drückte unter Schmerzen einige Tropfen Urin heraus, stakste immer noch mit der Unterhose an den Knöcheln zum Waschbecken und reinigte mit kaltem Wasser, was da von seinem ehemals besten Stück übrig war. Das tat gut, er bekam die Haut gelöst und es blutete auch nicht nach. So ließ er danach seine Feinripp fallen, trocknete mit ihr seinen Intimbereich und warf sie im Schlafzimmer in den Wäschekorb.
Wieder in der Küche, packte er seine Brotdose mit einigen Scheiben Brot und zwei Dosen Hausmacher-Wurst, legte neben der Dose auch eine Flasche Cola und ein Messer in die Tasche, zog den Reißverschluss zu und stellte sie neben der Wohnungstür ab. Danach griff er sich in der Küche seine Cappuccinotasse, hockte sich, nackt wie er war auf einen der Stühle und genoss die morgendliche Dosis Koffein. Er hatte noch gut vierzig Minuten Zeit und so ließ er jetzt alles ruhig angehen. Er spülte seine Tasse, holte seine Kleidung aus dem Schlafzimmer und zog jetzt stoisch seinen immer gleichen Start in den Tag durch, nahm sich aber fest vor, heute in der Frühstückspause einen Arzt anzurufen, denn aufzuschieben war da nichts, wenn er in nächster Zeit noch einmal mit seiner neuen Freundin Spaß haben wollte. Paul zog sich an, steckte sein Handy in die Tasche seiner Latzhose, warf seine Jacke über, griff nach Schlüssel und Tasche, und verließ so das Haus.
Gerne. Hier ist das komplette Kapitel 9, zusammengefügt und sauber formatiert:
9. Dr. Achmed Achmed
In der Firma bekam er von seinem Chef einen ausgedruckten Auftragsschein, mit Namen des Kunden, Adresse und dem allseits beliebten Vermerk »WC verstopft«. Zusätzliches Werkzeug war also nicht nötig, alles was er dafür brauchen würde, war im Monteurfahrzeug vorhanden. Was er nicht brauchte, aber dennoch zwingend mitzunehmen hatte, holte er aus dem Lager. Sein Lehrling Basti hatte ihn sicher letzte Woche nicht vermisst, er hatte seine Arbeitszeit im Lager verbracht, Werkzeug, Rohre, Gewindestopfen, Doppelnippel, Dichtungen und eben alles, was für die Arbeit bei Kunden benötigt wurde sortiert und sich ansonsten herumgedrückt. Basti war der übergewichtige Neffe eines Freundes ihres Chefs und so konnte er sich im Lager natürlich reichlich Zeit lassen, bekam von der Chefin sogar noch ein Frühstück und ein warmes Mittagessen serviert und durfte früher nach Hause. Es war also wenig verwunderlich, dass Basti nur ein leises »Guten Morgen« aus seinen Hamsterbäckchen presste, als er Paul durch die Türe des Lagers kommen sah.
»Müssen wir raus?«, fragte er, nachdem er von Paul auf sein Genuschel keine Antwort bekommen hatte.
»Wir dürfen raus, im Lager verdienen wir kein Geld!«, bekam er von seinem Gesellen als Antwort und kniff die kleinen Schweinsäuglein so zusammen, dass die Backen die Augenbrauen berührten. Paul schüttelte den Kopf und betrat über die Tür neben dem Rolltor den kleinen Hof der Firma, schloss die Tür des Transporters auf und stieg ein. Ein paar Minuten wartete er auf seinen Lehrling, bis dieser endlich die Beifahrertür öffnete, sich mit beiden Händen hinter der Sitzfläche des Beifahrersitzes festkrallte und unter Stöhnen seinen Revuekörper hochwuchtete und dabei prompt für eine tiefere Lage des Transporters rechtsseitig sorgte. Beim Anlegen des Gurtes musste Paul immer helfen, denn Basti kam mit seinen Stummelärmchen, die selbst im Stehen nur wenig über den Gürtel reichten, nicht an das Gurtschloss heran. Hätte Paul mehr Zeit gehabt, hätte er es ihn dennoch versuchen lassen, denn Lachen am Morgen war gesund. Der Kunde wartete, also legte er seinem Lehrling den Gurt an und freute sich darüber, dass dieser die üppige Freizeit der letzten Woche scheinbar für ein ausgiebiges Bad genutzt hatte, so fettig und säuerlich wie sonst roch er heute nicht.
Paul startete den Transporter und bereits zwanzig Minuten später erreichten sie den ersten Kunden. Er löste seinen Gurt, nahm seine Tasche und öffnete die seitliche Schiebetür des Transporters, wo er seine Tasche abstellte und die Rohrreinigungsmaschine, Werkzeugkasten, Spiralen und Schlauch nacheinander von der Ladefläche nahm und vor dem Fahrzeug ablegte. Der Transporter wackelte und ächzte ...
Durch das kleine Fenster zum Fahrerhaus konnte man sehen, dass sich Basti verzweifelt und hektisch versuchte, aus dem Gurt zu befreien. Er beugte sich von links nach rechts, schüttelte dabei so schnell seinen Kopf, dass man die Befürchtung haben musste, seine Backen würden demnächst auf dem Hinterkopf zusammenklatschen. Die Stoßdämpfer nahmen den Rhythmus auf und verhinderten durch ihr Mitschwingen, dass Bastis Fingerchen das Gurtschloss erreichen konnten. Ok, seinen Spaß für heute hatte er gehabt. Paul stieg auf der Fahrerseite ein, beugte sich über den Fahrersitz und löste mit einem »Gehts?« den Gurt und sprang wieder heraus. Etwa eine Minute später hob sich der vordere Teil des Transporters um bestimmt zwanzig Zentimeter an und die Beifahrertür wurde zugeschlagen. Paul schob die seitliche Tür zu, nahm die fünf Stufen vor der Tür des Einfamilienhauses und klingelte.
Eine sichtlich entnervte Hausfrau öffnete und führte ihn in ihr Badezimmer. Scheinbar hatte sie dort schon selbst versucht, mit einem Pümpel die Verstopfung zu lösen, denn die Schüssel war randvoll und tropfte, das Bad stand unter Wasser und die Brühe hätte sicher den Teppich im Flur erreicht, hätte die Hausherrin nicht mit Handtüchern eine Barriere aufgebaut. Sein Lehrling betrat mit hochrotem Kopf, wie eine alte Dampflok schnaubend die Wohnung und stützte sich an der Zarge der Badtür ab. Ein »Guten Morgen« brachte er nicht über die Lippen und wurde von der Hausherrin kopfschüttelnd gemustert. Paul, der schon durch die Pfütze zum WC gewatet war und sich die Misere von allen Seiten besah, hob den Blick und fragte:
»Kann es sein, dass du etwas vergessen hast?«, bekam aber keine Antwort.
Bastis laute Atmung verhinderte scheinbar, dass die Worte seines Gesellen an seine Ohren drangen, und so gab der direktere und lautere Anweisungen:
»Basti, bring das Werkzeug her, verdammt!«, das wurde verstanden und durch einen vorwurfsvollen aber hilflosen Blick erwidert.
»Mach hin, wir haben nicht ewig Zeit.«
Basti verließ die Wohnung und mit seinem üblichen hellen bis schrillen Gewinsel trug er nach und nach die benötigten Utensilien an die Badezimmertür heran, wo sie Paul kopfschüttelnd entgegennahm. Nachdem die Atmung nicht besser, dafür das Jammern lauter geworden war, brachte die Kundin einen Stuhl und ein Glas Wasser. Basti hatte es tatsächlich wieder einmal geschafft und konnte seinem Gesellen beim Arbeiten zusehen, die bösen Blicke, die ihm dafür zuflogen, störten ihn da wenig. Er hatte das seltene Talent so etwas an sich abprallen lassen zu können. Er sah also zu wie sein Geselle die Schüssel abschraubte, die Spirale ansetzte und das Fallrohr frei fräste, das WC wieder anschraubte, mehrmals die Spülung betätigte und das Klo provisorisch reinigte. Während Basti immer noch an seinem Wasser nippte, schrieb Paul die Rechnung und übergab sie der Kundin.
»Danke, dass sie so schnell gearbeitet haben!«, damit unterschrieb sie den Wisch, bezahlte und hielt jedem der beiden »Arbeiter« einen Fünfeuroschein hin. Der Lehrling griff hastig, Paul zögerlich zu. Wieder störte ihn der Blick seines Gesellen wenig.
»Basti, wisch hier noch ein bisschen zusammen, ich trage schon mal das Werkzeug herunter!«, Paul deutete dabei auf die Pfütze im Badezimmer. Doch die Hausherrin zeigte Mitleid, streichelte Basti über den breiten Rücken und sagte:
»Lassen sie nur, ich mach das schon. Lassen sie den Jungen noch etwas ausruhen!«
Beim Heruntertragen des Werkzeugs verfluchte Paul, dass man seinen Lehrlingen nicht mehr hin und wieder eine schallern durfte, tröstete sich aber mit dem Wissen, dass er Basti noch höchsten anderthalb Jahre ertragen musste. Denn der würde niemals die Gesellenprüfung bestehen, das stand für ihn jetzt schon zweifelsfrei fest. Nachdem das Werkzeug verstaut und Basti die Schiebetür gehört hatte, quälte auch er sich die paar Stufen herunter, grinste Paul an, öffnete die Beifahrertür und riss wie immer beim Einsteigen beinahe den Sitz aus der Verankerung.
Nein, beim Essen wollte er seinem Lehrling keine Gesellschaft leisten, der Anblick des zufriedenen, roten Mondgesichts und bei der jammernden Atmung, die nur durch das Schmatzen übertönt wurde, verging ihm alles, vor allem aber der Hunger. Er blieb lieber draußen und aß im Stehen, rauchte noch eine Zigarette und suchte dabei über sein Smartphone die Nummer eines Urologen in der Stadt. Die Auswahl fiel nicht schwer, es gab in der ganzen Umgebung scheinbar nur zwei urologische Praxen. Er wählte die Nummer und ihm wurde mitgeteilt, dass er in acht bis zwölf Wochen mit einem Termin rechnen konnte, was er dankend ablehnte. Die zweite Nummer gehörte zur Praxis des Urologen Dr. med. Achmed Achmed, bei dem außer Frage stand, dass seine Eltern entweder mit wenig Einfallsreichtum oder sehr viel Humor ausgestattet waren. Er wählte die Nummer, wurde von der Arzthelferin gefragt, was ihm denn fehlen würde und als er ihr zu verstehen gab, dass er das lieber mit dem Arzt selbst besprechen möchte, wurde er tatsächlich sofort mit ihm verbunden. Er schilderte dem freundlichen Herrn am Telefon sein Leid und bekam, als er zurückverbunden wurde, einen Termin noch am frühen Abend des gleichen Tages.
Das Frühstück war beendet, er stieg auf der Fahrerseite ein und wie befürchtet war sein Lehrling noch am Kauen, was nur durch ordentlich laute Musik übertönt werden konnte. Er fuhr die Firma an, ließ Basti im Wagen sitzen und holte sich seinen nächsten Auftrag. Heute gab es nichts Besonderes, noch ein verstopftes WC, eine Armatur, die ausgetauscht werden musste und ein tropfendes Siphon. Sein Lehrling war auch bei diesen Aufträgen wenig hilfreich und so ließ er ihn bei den letzten beiden im Fahrzeug sitzen, um ihn nicht auch noch von den Kunden mit Trinkgeld für seine Faulheit belohnen zu lassen. Komischerweise bekam aber auch er, ohne den Dicken kein Trinkgeld, was ihn kurz nachdenklich stimmte ...
Paul stellte den Transporter auf den Hof der Firma ab, lieferte die Durchschläge der Rechnungen und das Bargeld plus Lehrling im Büro ab, ärgerte sich darüber, dass der für die vier Aufträge auch noch gelobt wurde, verabschiedete sich und machte sich auf den Heimweg. Er überlegte, ob er kurz bei Sabine klingeln sollte, verwarf diese Idee und duschte schnell, um keine Zeit zu verlieren. Knapp eine Stunde später meldete er sich bei der Arzthelferin der Praxis Dr. med. Achmed Achmed an und wurde wieder gefragt, welches Problem er wohl hätte. Er erklärte, dass er das schon mit dem Arzt besprochen hätte, worauf am Rechner nachgeschaut wurde und er im Wartezimmer Platz nehmen durfte. Eine weitere Stunde später wurde er von einer der jungen Damen, die er zuvor an der Rezeption gesehen hatte, in einen leeren Behandlungsraum geführt, wo er warten sollte.
Schließlich betrat auch der ältere Arzt voller Elan das Zimmer, nuschelte seinem Patienten ein »Guten Abend, Achmed« entgegen und ließ sich auf seinen Drehstuhl fallen. Er hob seine Brille leicht an und sah Paul unter dem Brillenrand hindurch direkt in die Augen.
»So junger Mann, erzähl mir mal genau, wo dein Problem ist!?«
Paul war sich sicher, Dr. Achmed nicht das »Du« angeboten zu haben, verzichtete aber im Wissen um seine Lage und die Anzahl der Urologen des gesamten Umkreises auf eine Diskussion darüber. Stattdessen erklärte er Dr. Achmed in kurzen Worten, wo das Problem genau lag oder besser hing und wie es sich äußerte ohne dabei aber auf den Auslöser näher einzugehen. Dr. Achmed grinste seinen Patienten an und fragte:
»Hast du schon öfter Probleme gehabt, wenn du es dir selbst gemacht hast?«
Paul konnte förmlich spüren, dass sich seine Gesichtsfarbe änderte, und gab zurück:
»Äh nein, ich hab nichts selbst gemacht.«
Dr. Achmed rückte etwas näher, aber ohne dabei die Blickrichtung zu ändern.
»Ich habe gefragt, ob das Problem vorher schon mal aufgetreten ist, vielleicht, als du selbst an dir herummanipuliert hast?«
Um Gottes willen war der Mann hartnäckig.
»Nein, ist noch nie was gewesen!«, antwortete Paul genervt.
Damit gab sich der Arzt zufrieden, rückte aber noch näher und nuschelte: »Steh mal auf und zeig mal.«
Etwas zögerlich erhob sich Paul, öffnete seinen Gürtel und den Knopf, zog den Reißverschluss herunter und klappte die Öffnung seiner Hose mit leichtem Zug nach unten zur Seite weg. Dr. Achmed sah ihn abwartend an, griff dann selbst in die Unterhose und holte den immer noch sehr kleinen und sehr schrumpeligen Penis hervor. Danach schob er die Vorhaut zurück und besah sich die Eichel sehr genau.
»Frenulum direkt an der Eichel fast abgerissen.«
Damit drehte der Arzt seinen Stuhl und zog sich mit den Füßen bis zu seinem Schreibtisch, schrieb in der halb geöffneten Akte herum und kam auf die gleiche Weise wieder zu seinem Patienten zurück.
»So, kannst ihn wegpacken. Also, das Bändchen, das die Vorhaut oben am Penis hält, ist nicht gerissen, sondern beinahe aus der Eichel gerissen. Das wird so nichts mehr.«
Paul sah den Arzt ängstlich an und der begann zu lachen.
»Also da müssen wir eine kleine OP machen, da wird das Bändchen oben herausgeschnitten und unter der Eichel angenäht.«
Schon beim puren Gedanken daran zog es Paul alles zusammen.
»Danach wird der Penis vier bis sechs Wochen in Ruhe gelassen, auch wenn das schwerfällt.«
Paul wollte noch etwas sagen, schluckte es aber doch lieber hinunter. Dr. Achmed griff sich die Akte und schlug sie Paul bei der Verabschiedung leicht vor die Brust.
»Wir sehen uns übermorgen, da hab ich meinen OP-Tag, gib die Akte vorne ab, den Rest besprechen die Damen mit dir.«
Beide verließen den Raum, Paul ging links herum auf die Rezeption zu und der Arzt verschwand rechts in einem anderen Zimmer. Eines der Mädels an der Theke erklärte Paul, dass es nichts wirklich zu beachten geben würde, die Operation würde in lokaler Betäubung stattfinden und nur etwa fünfzehn Minuten dauern. Er solle vorsichtshalber eine Person mitbringen, die ihn nach Hause bringen konnte, denn selbstfahren ginge nicht. Er unterschrieb noch ein Formular und stimmte damit der OP zu, bekam einen Zettel auf dem Datum und Uhrzeit festgehalten waren und machte sich auf den Weg zu dem Parkhaus, in dem er zuvor seinen Golf abgestellt hatte. Auf dem Heimweg besorgte er einen kleinen Blumenstrauß an der Tanke und stellte kurze Zeit später seinen Wagen auf dem Parkplatz gegenüber seiner Behausung ab. Er ging die paar Stufen im Treppenhaus nach oben, als sich Sabines Wohnungstür öffnete.
»Hallo mein Schatz, ich warte schon eine Weile auf dich, alles gut!?«
Paul sah sie verliebt an, umarmte sie und bekam von ihr dafür einen feuchten und langen Kuss aufgedrückt. Sie sah wieder zum Anbeißen aus, trug eine Jeans, ein enges, weißes Shirt und weiße Arztsandalen. Als er die Blumen, die er bis dahin mit der linken Hand hinter dem Rücken versteckt gehalten hatte, hervorholte, bedankte sie sich überschwänglich und er bekam einen noch längeren und tieferen Kuss.
»Ich mache was zu essen, kommst du?«
Er sah sie immer noch verliebt an und folgte ihr, nicht ohne sich vorher die Schuhe auszuziehen und nachdem er die Türe hinter sich geschlossen hatte, durch den kleinen Gang ihrer Wohnung. Die Küchentür stand offen, alle anderen Räume waren geschlossen. So lief er hinter ihr her, bekam einen Stuhl zugewiesen und setzte sich.
»Was gibt es denn Gutes?«
Sabine holte eine Vase unter der Spüle hervor, füllte sie mit Wasser, stellte die Blumen hinein und die Vase auf den Tisch.
»Ich dachte an vegetarische Spaghetti Bolognese, wie wäre das?«
Paul streichelte seinen Bauch: »Doch das hört sich sehr gut an!«, tat es nicht, aber er war bereit alles auf sich zukommen zu lassen. Während Sabine kochte, interessierte sie sich für den Arbeitstag ihres neuen Freundes und vor allem, wie es beim Arzt gewesen war. Paul erzählte bereitwillig, lästerte herzhaft über seinen Lehrling, ahmte dessen Gesichtsausdruck und Atmung nach und beide lachten. Als Sabine das Essen aufgetischt hatte, bekam sie einen detaillierten Bericht über Pauls Arztbesuch, wobei sie auch gleich gefragt wurde, was sie denn am Mittwochmorgen vorhätte. Sie hatte Zeit und auch nichts dagegen, ihn zu begleiten. Es war also alles geklärt und Paul konnte sich seinem Essen widmen, und ja, das war wirklich erstaunlich gut. Hätte man nicht gewusst, dass es vegetarisch war, man hätte es nicht vermutet. Vom Biss her wie das Original, die Würze sehr gut, und da es von seiner großen Liebe nur für ihn zubereitet worden war, eh einfach göttlich. Dass es ihm schmeckte und dass er auch Sabines Anwesenheit genoss, konnte man ihm ansehen. Sabine freute sich darüber und gab jeden verliebten Blick, der sie traf, zurück. Paul hatte in seiner Wohnung nichts zu erledigen und so betrat er mit Sabine ihr sehr geschmackvoll und hell eingerichtetes Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und wurde gefragt, ob er denn etwas trinken mochte. Er bekam eine Flasche Cola und ein Glas hingestellt, seine Freundin setzte sich breitbeinig hinter ihn und begann ihn zu massieren ...
Er musste im Paradies gelandet sein, sie hatte ihn mit Essen verwöhnt, ihm zu trinken angeboten und die Massage war einfach unbeschreiblich. Lediglich das Fernsehprogramm war schlecht wie immer und so fragte ihn Sabine, ob er Lust hätte, sich in ihrem extra dafür eingerichteten Zimmer einer richtigen Massage zu unterziehen. Das konnte und wollte er nicht ablehnen, folgte der kleinen Blondine, die beim Aufstehen den Fernseher über die Fernbedienung ausgeschaltet hatte, in das direkt gegenüberliegende Zimmer. Hier waren nur braune und grüne Materialien verarbeitet worden, direkt neben der Tür standen zwei Korbregale, im linken türmten sich feinsäuberlich zusammengelegte Handtücher und im Rechten waren dekorativ kleine und größere Fläschchen platziert worden. Auf der ebenfalls aus Korb gefertigten Kommode stand eine kleine Musikanlage, die direkt nach dem Betreten des »Massagezimmers« von Sabine gestartet wurde. Der Raum war wirklich in sich stimmig und schön eingerichtet und natürlich musste sich Paul so geben, als würde er alles hier das erste Mal sehen. Da stand ein kleiner Tisch mit Buddhastatue und Klangschalen, links neben dem Fenster war eine Sprossenwand angebracht worden, vor dieser lag eine braune Matte, direkt daneben eine Art Hüpfball, wie ihn Paul in seiner Kindheit besessen hatte. In einem Netz daneben befanden sich Bälle in verschiedenen Größen. Mitten im Raum stand diese, für ihn zuvor ominöse Liege, die seit Paul Sabines Beruf kannte, ihr Geheimnis natürlich verloren hatte. Eine asiatische Melodie, die mit den Geräuschen von Vogelgezwitscher und Wind unterlegt war, klang angenehm leise durch den Raum.
»Zieh dich schon mal aus Schatz, ich bereite alles vor und bin gleich bei dir.«
Sabine nahm ein Handtuch aus dem Regal, legte es über die Liege. Eine kleine Karaffe wurde mit Öl gefüllt und auf einer Art »Miniherdplatte« abgestellt. Paul hatte sich bis auf die Unterhose ausgezogen, seine Kleidung zusammengelegt und neben der kleinen Musikanlage platziert. Sabine bedeutete ihm, dass er sich schon mal mit dem Bauch nach unten auf die Liege legen sollte und dieser folgte natürlich sofort. Am Kopfende befand sich eine Öffnung, er legte sein Gesicht direkt darüber und seine Arme seitlich an seinem Körper ab.
»Meine Güte« die Kleine hatte es echt drauf, von sehr zärtlich bis extrem hart wurde alles geboten. Sie massierte Muskeln, von denen Paul bis dahin nicht wusste, dass er sie besessen hatte. Er spürte warmes Öl, welches über seinen Rücken gegossen und sofort verteilt wurde, vom Nacken bis zum kleinen Fußzeh wurde er gestreichelt, geknetet und gedrückt, so dass ihm abwechselnd aus Erregung und Schmerz die Luft wegblieb. Nach etwa zwanzig Minuten sollte er sich umdrehen und genoss jetzt die gleiche Behandlung an der Brust, im seitlichen Bauchbereich und an den Beinen. Hin und wieder bekam er dabei einen zärtlichen Zungenkuss und kam nicht umhin etwas Eifersucht zu entwickeln, denn eine ähnliche Behandlung bekam ja jeder, der dafür bezahlte. Wobei er sich sicher war, dass Sabine zumindest auf das Küssen bei ihren anderen Patienten verzichtete. Er musste wohl oder übel lernen damit umzugehen, das war nun einmal ihr Beruf. Paul genoss weiter und nickte nach einiger Zeit tatsächlich einfach weg.
»Hallo Schatz«, Sabine hatte ihm leise ins Ohr geflüstert, »komm aufwachen!«
Etwas verdattert, aber doch sehr entspannt, kletterte Paul von der Liege und zog sich an. Sabine hatte ihn alleine gelassen und die Musik abgeschaltet, holte ihn aber kurze Zeit später ab und beide verbrachten den Rest des Abends kuschelnd vor dem Fernseher. Spät verabschiedete er sich von seiner Freundin und ging, nur um sich schnell die Zähne zu putzen, sich auszuziehen und beinahe sofort einzuschlafen, in seine eigene Wohnung.
Mittwoch, 12:10 Uhr.
»Paul!?«
Sabine rüttelte leicht an seiner Schulter.
»Paul dein Handy hat schon ein paarmal geklingelt!«
Er öffnete langsam seine Augen, Sabine hatte sich über ihn gebeugt und hielt ihm sein Handy entgegen. Er tastete danach und warf immer noch schläfrig einen ersten kurzen Blick auf das Display.
»Mein Chef ... ok ich rufe ihn gleich zurück!«
Er raffte sich langsam hoch, legte auf der Couch sitzend die Decke über seine Beine und warf einen zweiten Blick auf sein Handy: »fünf Anrufe in Abwesenheit«, ok musste wohl dringend sein. Paul hatte schon einen Verdacht, um was es gehen würde, legte sein Handy aber erst einmal vor sich auf den Tisch und rieb sich ausgiebig die Augen, sein ganzes Gesicht und streckte laut gähnend seine Arme und den Rücken durch ...
Das tat gut!
10. Tea Time
Sabine betrat wieder das Wohnzimmer und stellte ihm eine Tasse Kaffee hin.
»Hier trink erst mal eine Tasse, zum Wachwerden. Hast du Schmerzen!?«
Paul verneinte, er fühlte sich gut und hatte im Moment weniger Schmerzen zwischen den Beinen als die Tage zuvor. Gerade wollte er die Tasse ansetzen, als sich sein Handy erneut meldete.
»Meier!«
»Paul, hier ist Hilde«, Hilde war die Chefin und für alles, was mit dem Büro, Telefon, Abrechnungen usw. zu tun hatte, zuständig.
»Ja Chefin, was gibt es?«, fragte Paul scheinheilig.
»Ich wollte nur fragen, was gestern mit Basti los war, oder anders, ich soll dich von meinem Mann fragen, ob das mit Basti Absicht gewesen ist?«
Paul wusste sofort, was seine Chefin meinte, grinste und antwortete:
»Was soll Absicht gewesen sein und vor allem, was ist denn passiert?«, fragte er und konnte sich dabei nur mühsam das Lachen verkneifen.
Seine Chefin begann zu erzählen, dass sie und ihr Ehemann geglaubt hätten, dass Basti gestern nach der Arbeit schon direkt nach Hause gegangen wäre, dass aber seine Eltern abends angerufen hätten und ihren Sohn vermissten. Die Eltern hatten die paar Straßen von ihrem Haus bis zur Firma abgesucht, ihren Sohn aber nirgends finden können. Sie hätten dann beim Chef ihres Sohnes geklingelt, gemeinsam im Lager und den restlichen Räumen der Firma nachgesehen und Basti dann weinend und völlig verzweifelt auf dem Beifahrersitz des Transporters vorgefunden. Der arme Kerl hatte vier Stunden im Wagen gesessen, war völlig entkräftet und kurz vor einem Nervenzusammenbruch aus dem Gurt befreit worden. Seine Eltern hatten ihn mit nachhause genommen und ihn jetzt für den Rest der Woche krankgemeldet.
Paul schwor Stein und Bein darauf, dass er gedacht hätte, sein Lehrling wäre nach der vielen Arbeit direkt und ohne Verabschiedung nach Hause gegangen. Hilde glaubte ihm natürlich, welchen Grund sollte er auch gehabt haben, dem armen Kerl so übel mitzuspielen. Hätte seine Chefin das Grinsen gesehen, welches Paul während des ganzen Gesprächs im Gesicht hatte, wäre ihr Fazit sicher anders ausgefallen. Paul wechselte schnell das Thema, erzählte seiner Chefin, dass er eine kleine OP gehabt hatte und sich für den Rest der Woche abmelden musste. Sie hatte im Büro noch einiges zu tun und fragte daher nicht weiter nach, wünschte Paul gute Besserung und verabschiedete sich. Paul legte das Handy wieder auf den Tisch und grinste zufrieden, als er seinen Kaffee ansetzte. Sabine wunderte sich etwas über seine gute Laune, dachte aber, alleine die Tatsache, dass er diese Woche nicht mehr arbeiten musste, wäre der Grund, fragte nicht nach, sondern gab sich mit dieser Vermutung zufrieden.
Mittwoch, 13:05 Uhr.
Paul blieb auf der Couch sitzen, trank genüsslich seinen Kaffee und verließ danach kurz die Wohnung seiner Freundin, um sich im Hof seine Mittagszigarette zu gönnen. Gerade als er die Kippe ausgetreten und die Reste in der Tonne entsorgt hatte, hörte er Sabine im Treppenhaus rufen:
»Kommst du? Das Essen ist fertig!«
An dieses Leben konnte man sich wirklich gewöhnen, man wurde von hinten bis vorne umsorgt, musste die Küche selbst nicht betreten und bekam dennoch ausreichend Nahrung. Peters Beschwerde über Sabines »Hausmütterchen-Gemache« musste eindeutig seinem überhöhten Medikamentenkonsum zugeschrieben werden. Paul würde es nie in den Sinn kommen, sich über dieses »Gemache« zu beschweren. Gleichwohl kam schon die Frage in ihm auf, ob er, würde ihn seine Freundin weiterhin derart verwöhnen, in Zukunft ähnliche Probleme beim Besteigen des Firmentransporters haben sollte wie sein Lehrling Basti. Er ließ sich das selbstgemachte Kartoffelgratin trotzdem schmecken, nahm sich vor, auf alle körperlichen Veränderungen sofort zu reagieren, war beruhigt und genoss einen zweiten und auch den dritten Nachschlag. Beim Essen gab es logischerweise nur ein Thema, seine Operation. Was genau gemacht wurde, wie es ihm dabei gegangen war und was jetzt zu tun wäre, um eine gute Heilung zu gewährleisten. Sabine war interessiert und besorgt, er freute sich darüber, gab bereitwillig Auskunft und schmückte seine Antworten detailreich aus.
Nach dem Essen und ohne beim Abräumen oder Abwasch helfen zu müssen, setzte er sich vor den Fernseher, bekam noch eine Flasche Cola und ein Glas hingestellt und sollte sich ausruhen. Sabine erklärte ihm, dass sie für heute zwei Patienten erwartete und dafür in ihrem »Physio-Zimmer« Vorbereitungen zu treffen hatte. Sie ließ beide Türen offen und erst als es an ihrer Wohnungstüre schellte, schloss sie die Tür zum Wohnzimmer. Es war schon ein extrem seltsames Gefühl, Paul saß da, aus dem Zimmer gegenüber war leise Musik und hin und wieder ein lautes Stöhnen zu hören. Er versuchte sich mit dem Fernseher abzulenken, was aber bei dem alltäglichen Programm zur Mittagszeit schwer möglich war, zappte mehrfach hoch und runter, nippte dabei an seiner Cola, lauschte hin und wieder den Tönen, die aus dem gegenüberliegenden Zimmer drangen und warf auch ab und an einen Blick auf sein Handy, um die Zeit, die Sabine mit ihrem Patienten verbrachte, zu kontrollieren. Nachdem etwas mehr als eine Stunde vergangen war, konnte er hören, dass der Patient verabschiedet und die Wohnungstür geschlossen wurde. Seine Freundin betrat das Wohnzimmer, atmete tief durch und drückte ihm einen Kuss auf.
»In etwa einer halben Stunde kommt der Nächste, bis dahin haben wir Zeit.«
Sie setzte sich, lehnte sich an ihn und beide streichelten und umarmten sich. Zunächst nur am Rande ließen sie eine »Reality Soap« aus dem Genre »Geplante Volksverdummung« auf sich wirken und lachten gemeinsam über die darstellerische Leistung und die heruntergeleierten und extrem betonten Dialoge der Laienschauspieler. Wieder läutete es an der Tür, Sabine fertigte den nächsten Patienten ab und widmete sich danach wieder ihrem Freund.
Am Abend bequemte er sich in die Küche, um seiner Freundin beim Kochen zuzusehen, und war erstaunt über sich selbst, als er, nachdem er von ihr zum Mitmachen aufgefordert worden war, wirklich Spaß daran entwickelte, Tomaten, Gurken und Peperoni zu schnippeln. Man konnte sich dabei gut unterhalten, lachen und hin und wieder Zärtlichkeiten austauschen. Der so entstandene Salat wurde mit Mozzarella garniert und schmeckte, im Zusammenspiel mit dem von Sabine auf den Tisch gebrachten Brot, dem Käse und den Aufstrichen, wirklich hervorragend. Das Abräumen sollte er wieder seiner Freundin überlassen und wurde von ihr zurück in ihr Wohnzimmer geschickt. Er wollte die Zeit sinnvoller nutzen, verließ Sabines Wohnung, betrat seine, duschte, putzte sich die Zähne und verbrachte danach den Abend mit seiner Traumfrau auf der Couch und vor dem Fernsehapparat.
Donnerstag, 9:20 Uhr.
Als Paul wach wurde, sah er in Sabines Gesicht. Sie war wohl schon eine Weile wach und hatte ihm einfach nur beim Schlafen zugesehen. Er warf ihr einen verliebten Blick zu, spitzte die Lippen und bewegte seinen Oberkörper in ihre Richtung. So sollte ein Morgen beginnen, genau so! Er schmeckte ihre Lippen, spürte ihre Zunge und ...
Paul sprang hoch und zog sich ruckartig die Unterhose herunter. Eine kleine weiße Mumie sprang, kaum war der Saum gelöst, hervor und stand nach kurzem Zappeln vor Sabines Gesicht stramm. Paul hatte das Gefühl, als würde er entmannt werden, es drückte und schnitt in einer Intensität, die ihm spontan Tränen in die Augen treten ließ. Er fasste den Verband und zog ihn mit einem Ruck herunter, schleuderte ihn einfach weg und ließ sich zurückfallen, presste sich die Hände vors Gesicht, drückte seinen Hinterkopf fest in das Kissen und jammerte laut in seine Handflächen. Als er wieder klar denken konnte, hörte er leises Lachen, spürte Sabines Finger an seinem besten oder besser ramponierten Stück und sah an sich herunter. Sabine hielt den armen Kerl in zwei Fingern und betrachtete interessiert die Rückseite. Sie drückte ihn nach vorne und ließ ihn auf Pauls Unterbauch fallen.
»Guck doch mal, das Teil sieht doch aus wie ein kaputter Damenstrumpf!«, dabei zeigte sie auf die Naht, die von der Eichel etwa vier Zentimeter nach unten über den Schaft lief und lachte weiter. Paul hob den Kopf, streckte sich nach vorne. Der Schmerz hatte nachgelassen und das Ding sah wirklich, na ja irgendwie lustig aus, und so lachte er einfach mit. Sabine griff wieder in Richtung des »Damenstrumpfes«, aber Paul war schneller, warf die Decke darüber und klemmte diese schützend links und rechts mit den Armen fest. Sabine lachte lauter ...
Den Rest des Tages verbrachten beide abwechselnd im Bett oder auf der Couch, zappten sich durch die unendlichen Weiten der schlechten deutschen Medienlandschaft und ernährten sich von belegten Broten und Cola. Während Sabine einen Patienten durchknetete, döste Paul im Bett vor sich hin. Musste er zur Toilette und war kein Fremder in der Wohnung, blieb er nackt, um die Spannung auf die Naht so gering wie möglich zu halten. Aus Angst vor den Folgen untersagte er seiner Freundin, sich ihm heute nackt zu nähern oder sich auch nur in seiner Nähe ihrer Kleidung zu entledigen.
Samstag, 10:15 Uhr.
Die letzten Tage waren Erholung und Anstrengung pur gewesen, er hatte ausschlafen können, hatte seine Zeit entweder im Sitzen oder Liegen verbracht und es gab für ihn außer schlafen, kuscheln, essen und trinken nichts weiter zu tun. Das war Urlaub, das war pure Erholung. Aber eine Frau mit der Figur und der Ausstrahlung von Sabine neben sich zu haben und keine Reaktion zeigen zu dürfen, war unfassbar anstrengend. Wenn sie sich an ihn drückte und er ihre Rundungen spüren konnte, wenn sie ihn küsste, wenn sie ihre Kleidung wechselte, hatte er zu kämpfen ...
Auch heute war es den ganzen Tag nicht anders, wobei die Anstrengungen immer mehr in den Vordergrund traten. Was hätte er ohne diese Verletzung in der letzten Zeit nicht alles anstellen können. Er durfte gar nicht daran denken. Das Denken alleine reichte und die »Spannung« nahm im wahrsten Sinne des Wortes ungeahnte Ausmaße an. Sabine musste schon bald Hornhaut an ihrem Rücken haben, denn er streichelte sie nur dort, um nicht auf andere Ideen zu kommen. Sie nahm es ihm nicht krumm, denn sie wusste ja, dass er nicht böswillig andere Körperstellen aussparte. Ja, beide konnten mittlerweile sogar über die wirklich dumme Situation lachen. Wie oft gab es sowas wohl? Man war seit knapp einer Woche zusammen, kuschelte und schmuste bei jeder Gelegenheit miteinander und hatte dabei genau anderthalb mal Sex und das war es gewesen ...
Was blieb ihnen anders übrig, als die Zeit wie ein altes Ehepaar zu verbringen. Beide saßen also auf der Couch, hielten Händchen, aßen, tranken und hatten sich sogar an das schlechte Programm gewöhnt. Paul stand auf, lenkte seine Schritte nackt zur Toilette, bekam von seiner Freundin hinterhergepfiffen, wackelte als Antwort mit seinem Hintern, lachte und klappte vor der Toilette angekommen den Deckel hoch. Irgendwas stimmte da nicht, das Brennen hatte wieder deutlich zugenommen und es beschlich ihn ein ungutes Gefühl, als er leicht die Vorhaut nach hinten bewegte. Nachdem er den Rollkragen zurückgestreift hatte, bestätigte sich sein Verdacht und es bot sich ihm ein Bild des Schreckens. Das komplette Teil war entzündet, es eiterte, es roch unangenehm. Johannes schien von allen unbemerkt letzte Nacht verstorben zu sein und sich schon jetzt in seine Bestandteile aufzulösen ...
Er ging also zurück in das Wohnzimmer und obwohl sein Gesichtsausdruck schon vermuten ließ, dass etwas nicht stimmte, erklärte er seiner Freundin detailliert, welche Probleme aufgetreten waren, dass es wohl nötig werden würde, stark zu sein, denn es gäbe den Verlust eines guten Freundes und Familienmitgliedes zu beklagen. Er warnte Sabine davor, mit einer Herz-Lungenmassage oder gar mit Mund-zu-Mundbeatmung eine Reanimation zu wagen. Es wäre nötig, diesen schweren Schicksalsschlag hinzunehmen, um zu versuchen, daran zu wachsen und das Beste für die zukünftige Beziehung herauszuziehen oder eben doch am Montag wieder bei Dr. Achmed Achmed aufzulaufen ...
Sabine lachte diesmal nicht, lief in die Küche und stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd, kramte danach in einem ihrer Schränke und holte eine Packung Kamillentee hervor. Paul wunderte sich, warum sie gerade jetzt auf die Idee kam, Tee zu kochen, sagte aber nichts und setzte sich nackt auf einen Stuhl. Das Wasser kochte, eine größere Tasse wurde mit dem heißen Wasser befüllt und ein Teebeutel hineingehängt. Hin und wieder warf sie Sabine ihrem Freund mitleidige Blicke zu, rührte eine Weile in der Tasse herum, drückte den Beutel mit dem Löffel aus, rührte wieder herum, legte den Teebeutel mit Löffel auf die Ablage der Spüle und stellte Paul die Tasse hin. Ok, er hatte zwar keine Ahnung, wie ihm das jetzt helfen sollte, aber er bedankte sich und nippte an der Tasse. Sabine lachte laut auf und Paul quittierte ihr Lachen mit einem verwirrten Gesichtsausdruck.
»Das ist nicht für dich!«
Paul sah jetzt noch verwirrter in Richtung seiner Freundin.
»Für ihn!«, damit zeige sie auf Pauls besten Freund.
»Ernsthaft?«, Paul fragte beinahe ängstlich.
»Frag nicht, häng ihn rein!«, befahl sie mit leicht belustigtem Unterton.
Vorsichtig tat er, wie ihm befohlen wurde.
»Da lässt du ihn jetzt mal eine halbe Stunde!«
Das war auszuhalten, sah aber bestimmt extrem dämlich aus. Sabine ging zurück in ihr Wohnzimmer und rief ihren Freund zu sich und der folgte ihr, immer noch mit der Tasse zwischen den Beinen, auf die Couch. Dort saß er, mit dem Blick eines geprügelten Hundes, den Kopf seines Freundes in die Tasse getunkt, bis die Zeit abgelaufen war. Sabine holte ein kleines Handtuch aus ihrem Physio-Zimmer, nahm ihm die Tasse ab, hielt ihm dafür das Handtuch entgegen und verschwand in der Küche, um sie dort ausgiebig zu spülen. Diese für Paul sehr deprimierende Prozedur wurde die nächsten Tage immer wieder wiederholt.
11. Auf Krawall gebürstet
Eine Woche Später, Sonntag, 5:00 Uhr.
Letzte Woche hatte Paul wieder gearbeitet und auch Basti war wieder in der Firma, hatte aber seine Karriere als Installateur an den Nagel gehängt und war von ihrem Chef kurzerhand als Kaufmannslehrling eingestellt worden. Er würdigte Paul auch nach Tagen keines Blickes, wenn dieser im Büro ankam, um einen neuen Auftrag entgegenzunehmen. Paul war das mehr als Recht, wichtig für ihn war nur, dass er diesen Klotz am Bein endlich losgeworden war. Dafür war er sogar bereit, auf das eine oder andere Trinkgeld zu verzichten. Er hatte nach wie vor nicht so viel zu tun, dass er sich extrem hätte beeilen müssen und alleine erledigte er die Aufträge sogar noch viel schneller als zuvor. Unter der Woche hatte er wieder in seiner Wohnung übernachtet, verbrachte und genoss aber jede freie Minute mit seiner Freundin.
Sabine bekochte und verwöhnte ihn, wo sie konnte. Die Heilsalbe hatte gewirkt, die Flecken im Gesicht waren verschwunden, die Verbrennung am Arm kaum noch sichtbar und sein kleiner Freund war zwar noch nicht wieder einsatzbereit, aber von den Toten auferstanden, verursachte keine Schmerzen mehr und dank Sabines Teekur war die Entzündung zurückgegangen. Kurz, alles war gut ...
Jetzt war also wieder Wochenende und Paul lebte seinen neuen und deutlich schöneren Alltag, bekam ein Abendessen auf den Tisch und ließ es sich schmecken. Nur Sabine schien es heute nicht allzu gut zu gehen. Sie war bleich und klagte über ein Ziehen im Bauchbereich und hin und wieder auch über Übelkeit und Schwindel. Irgendein Patient musste ihr einen Infekt mitgebracht haben, denn gegessen hatte sie in den letzten Tagen das Gleiche wie ihr Freund und bei ihm waren bisher keine derartigen Symptome aufgetreten. An dem heute von ihr zubereiteten Abendessen hatte sie nur gerochen und dann darauf verzichtet. Diesmal war es also an Paul, sie zu verwöhnen, er kochte ihr eine Tütensuppe, füllte das Brotkörbchen mit frisch geschnittenem Brot und stellte es in Sabines Reichweite auf den Tisch. Sie bedankte sich, lächelte ihn an und begann langsam die Suppe zu löffeln. Ihr Freund setzte sich, nachdem er den Topf gespült hatte, zu ihr und sah ihr zufrieden beim Essen zu. Er streichelte dabei ihren Rücken oder strich ihr zärtlich über ihr Haar. Sie hatte gerade die Hälfte der Suppe geschafft, als ihr Paul eine Scheibe Brot hinhielt.
Ein Blick reichte ...
Sabine erbrach sich, oder besser sie spie. Nein sie kotzte, noch bevor sie ihre Hände vor den Mund bekam, in einem breiten Strahl die Suppe und alles, was sie den Tag über zu sich genommen hatte, über den Tisch. Sie beugte sich nach vorne und drückte dabei ihre Hände vor den Mund, was aber nur dazu führte, dass ihr jetzt die Brühe eben aus der Nase lief. Sie stützte sich mit einer Hand auf den Tisch, drehte sich ruckartig um die eigene Achse, traf mit der Hand den Teller und schleuderte ihn in Richtung ihres Freundes. Paul griff zu, um zu verhindern, dass der Teller vom Tisch fallen konnte, bremste den jetzt wieder bis zum Rand gefüllten Teller und der Inhalt schwappte ihm in einer hohen Welle entgegen, brach sich an seinem Arm und verteilte sich über Hose und Shirt.
Kurze Zeit saß er nur da, sah an sich herunter und ließ seine Augen über den Tisch wandern. Extrem säuerlicher Geruch stieg ihm in die Nase und er spürte, dass auch sein Mageninhalt nach oben drückte und ein Ventil nach außen suchte. Er presste beide Hände vor den Mund, sprang hoch und rannte ebenfalls in Richtung Badezimmer, rutschte mehrfach mit seinen nackten Füßen auf der Spur, die Sabine hinterlassen hatte, aus, fing sich wieder und erreichte im letzten Moment das Waschbecken, in dem er sich lautstark und druckvoll erleichterte.
»Hab ich dich angesteckt?«, Sabine stand so hinter ihm, dass er sie im Spiegel sehen konnte.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, hat mit einer Krankheit nichts zu tun. Ich habe einen empfindlichen Magen, der überschlägt sich schon, wenn ich Kotzgeräusche nur höre. Sehen und riechen geht da gar nicht.«
Seine Freundin sah ihn verständnisvoll an und sagte: »Geh du erst mal rüber duschen, ich versuche hier sauber zu machen und geh dann auch ins Bad.«
Paul nickte, suchte seine Klamotten zusammen, zog sich die Jeans über und wechselte ohne Umwege die Badezimmer. Frisch geduscht und frisch eingekleidet verließ er seine Wohnung und klopfte an Sabines Tür, die sofort geöffnet wurde. Seine Freundin sah immer noch schrecklich aus, sie trug dieselben Klamotten wie zuvor, hatte zwar versucht, die groben Spuren an der Kleidung zu verwischen, aber der Gestank und die Flecken waren geblieben. Sie stützte sich auf den Stiel ihres Wischmopps und warf ihrem Freund vorwurfsvolle Blicke zu.
»Auch schon da? Lass mich nur alles alleine machen!«
Oh je, da war jemand geladen.
»Ich wollte doch nur kurz ...«, wollte er sich schnell entschuldigen, wurde aber sofort von Sabine unterbrochen:
»Ihr wollt immer nur, nur ihr tut nix!«, dabei fuhr sie hastig herum und verschwand in der Küche. Sie hatte in der Wohnung schon allen sichtbaren Dreck so weit entfernt, dass auf dem Fußboden nur noch einige Schlieren zu sehen waren, und diesen wollte sie sich jetzt annehmen.
»Das Fenster kannst du schon mal öffnen, es sei denn, du hast etwas Wichtigeres vor!«, knurrte sie ihn weiter an.
Paul ging, ohne dabei ein unnötiges Wort zu verlieren, zum Fenster, nahm dort vom Fensterbrett den kleinen Kräutertopf, stellte ihn auf dem Küchentisch ab, schob danach die Vorhänge zur Seite und zog das Fenster auf.
»So und bevor du dich jetzt total verausgabst, setz dich ins Wohnzimmer und warte dort!«, sie klang weiter sehr genervt und schien ziemlich auf Krawall gebürstet zu sein. Also tat er, wie ihm befohlen war, wartete auf der Couch sitzend im Wohnzimmer, getraute sich jedoch nicht, den Fernseher einzuschalten, und wollte sich lieber so ruhig wie möglich verhalten. Nachdem Sabine geräuschvoll und weiter schimpfend den Eimer in die Toilette entleert, ihn scheinbar am Waschbecken ausgespült und den Wischmob mit den Händen grob gereinigt hatte, wurde es kurz still ...
»Ich geh jetzt auch duschen!«, rief sie ihrem Freund mit dem immer noch gleichen vorwurfsvollen Unterton entgegen und schlug, ohne auf eine Antwort zu warten, die Badezimmertür hart in den Rahmen. Paul saß wie zuvor mit zusammengefalteten Händen im Wohnzimmer und wartete. Er überlegte, was ihm Sabine übel nahm, kam aber zu keinem Ergebnis, denn er hatte nichts getan, was sie ihm nicht genau so aufgetragen hatte. Hier war also wieder der Mann in ihm gefragt, er musste handeln, wie jeder Mann in einer solchen Situation handelte, wie es den Männern genetisch vorbestimmt war. Er musste sich benehmen, wie sich Männer in jeder Bauernhütte Südostanatoliens, in jedem New Yorker Wolkenkratzer und zu allen Zeiten, in den Höhlen des Neandertals und in den Prachtbauten Roms zu benehmen hatten ...
Er musste sich entschuldigen!
Egal was er gemacht hatte, er musste Sabine klar machen, dass er über sein eigenes Verhalten erschrocken und enttäuscht war, dass er sich vornahm, an sich zu arbeiten, dass er nie wieder so reagieren würde, und, und, und ... Dass er in Wirklichkeit keine Ahnung hatte, was ihr Problem sein konnte, dass er der Meinung war, ihr nicht den geringsten Anlass für ihre miese Laune gegeben zu haben, und dass er sich nur entschuldigte, um Ruhe zu haben, und das Ganze einfach nicht eskalieren lassen wollte, das wollte er tunlichst verschweigen.
Sonntag, 19:18 Uhr.
Nur mit Shirt und String bekleidet betrat Sabine ihr Wohnzimmer, warf sich neben ihren Freund auf die Couch, lehnte sich an ihn, sah ihm tief in die Augen und sagte:
»Na mein Schatz, alles klar?«
Schnell verwarf Paul seinen kurz zuvor gefassten Plan, wollte sich nicht mehr rechtfertigen, klopfte sich im Gedanken auf die Schulter und ging zum Alltag über. Sabine stand wieder auf, verließ kurz das Wohnzimmer und kam mit einer Flasche Wasser, einer Flasche Cola sowie zwei Gläsern zurück, stellte alles auf dem Tisch ab, verschwand erneut, um kurz darauf mit dem Putzeimer zurückzukommen.
»Mir ist zwar nicht mehr wirklich übel, aber irgendwie habe ich noch ein komisches Gefühl im Bauch. Ich stell mir lieber mal den Eimer hier hin, bevor ich wieder alleine putze.«
Ok, Paul überlegte kurz, atmete einmal tief durch und reagierte vorsichtshalber doch nicht auf diesen erneuten Seitenhieb ...
Beide verbrachten den Rest des Abends wie die Abende zuvor. Ineinander verschlungen ließen sie den Irrsinn des Sonntagabendprogramms über sich ergehen, lachten über Vergangenes und schmiedeten Pläne für die Zukunft. Sabine hatte sich beruhigt, war zärtlich, lieb und zuvorkommend, musste sich nicht mehr übergeben und auch ihre Bauchschmerzen mussten verschwunden oder zumindest so weit zurückgegangen sein, dass sie nicht mehr klagte. Paul riss sich erst spät von seiner Freundin los, um wie es abgesprochen war, unter der Woche in seinem Schlafzimmer zu übernachten.
Montag, 05:55 Uhr.
Alle Vorbereitungen für den Arbeitstag waren getroffen, er trat frisch und wach aus seiner Wohnung, verschloss die Tür und war dabei die erste Stufe nach unten in Richtung der Haustüre zu nehmen, als sich die Tür direkt hinter ihm öffnete und irgendjemand seinen Namen krächzte. Er fuhr herum und sah das Elend. Seine Freundin schien wenig bis gar nicht geschlafen zu haben, sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht gebrochen und geweint.
»Ich wollte dich nur noch mal sehen und dir einen schönen Arbeitstag wünschen«, dabei warf sie ihm wieder einen vorwurfsvollen, aber gleichzeitig bittenden Blick entgegen.
»Schatz ich beeile mich, dass ich so schnell wie möglich wieder bei dir bin, versprochen!«, Paul wollte ihr noch einen Kuss geben, aber Sabine hatte ihre Tür schon zugeschoben.
Was hätte er jetzt machen sollen? Klopfen, klingeln, noch einmal reden, zu spät zur Arbeit kommen, noch einmal beim Chef anrufen und zu Hause bleiben? Das erschien ihm alles sinnlos, würde nichts bringen und hätte ihm die letzten Sympathien seines Chefs kosten können. So drehte er sich mehr als missmutig weg, ging aus dem Haus und begann seinen Arbeitstag. Seinem Chef erklärte er die missliche Lage, in der er sich befand, erklärte, dass er heute nur das Nötigste erledigen wollte und dann so schnell wie möglich nach Hause fahren würde, um sich um seine Freundin zu kümmern.
Sein Arbeitgeber gab ihm gutgemeinte, aber augenscheinlich uralte und von vornherein zum Scheitern verurteilte Tipps zum richtigen Umgang mit Frauen im Allgemeinen und dem eigenen Hausdrachen im Besonderen. Diese waren schon deshalb wertlos, weil er dabei regelmäßig vom Lachen und missbilligenden Zwischenrufen seiner Frau unterbrochen wurde. Hilde schüttelte den Kopf, zeigte ihrem Mann den Vogel und winkte respektlos ab. Basti am Schreibtisch gegenüber schien das alles wenig zu interessieren, er öffnete leise seine Brotdose und nutzte die Zeit, um zu verhindern, dass sein Stoffwechsel auch nur kurz unterbrochen wurde. Es war alles gesagt, Paul erledigte die wenigen Serviceaufträge so schnell es ging, ließ Frühstück und Mittagspause ausfallen und beendete den Arbeitstag so früh wie nie ...
Montag, 14:32 Uhr.
Paul klingelte, nachdem er die Arbeitstasche und die Jacke in seiner Wohnung einfach auf die Couch geworfen hatte, an Sabines Tür und musste eine ganze Weile warten, bis geöffnet wurde. Sabine streckte kurz den Kopf heraus, sah extrem verschlafen aus, ließ die Tür offen und schwankte zurück in ihr Schlafzimmer. Paul folgte ihr besorgt, setzte sich auf die Bettkante, streichelte ihr Haar und fragte:
»Glaubst du nicht, es wäre besser, zum Arzt zu gehen?«
Wieder traf ihn einer ihrer vorwurfsvollen Blicke.
»Um diese Zeit dürfte mein Hausarzt nicht mehr in der Praxis sein!«
Sie hatte offensichtlich noch nicht auf die Uhr gesehen und glaubte, es müsse relativ spät sein, wenn ihr Freund schon von der Arbeit gekommen war. Der erklärte ihr, dass er früher Feierabend gemacht hatte und dass einem Arztbesuch nichts im Wege stünde. Sabine wäre lieber einfach liegen geblieben, ließ sich aber doch überzeugen das Bett zu verlassen, quälte sich in einen Jogginganzug, klemmte sich den Putzeimer unter den Arm, schlüpfte in ihr weißen Arztsandalen und ließ sich so zu ihrem Hausarzt chauffieren. Ihr Anblick und wohl auch die Angst selbst putzen zu müssen, verleitete die Arzthelferin an der Theke, Sabine direkt in ein Behandlungszimmer zu führen, was von einigen älteren Patienten, die wohl schon eine längere Wartezeit hinter sich hatten, mit abfälligen Gesten quittiert wurde. Paul kramte in den ausgelesenen Magazinen, die wild durcheinander auf dem Tisch im Wartezimmer lagen, fand nichts Interessantes und surfte die nächsten vierzig Minuten mit seinem Handy im Internet.
»Kommst du?«, Sabine winkte ihren Freund zu sich. Paul stand auf und verabschiedete sich mit einem freundlichen »Auf Wiedersehen« bei den Wartenden, erntete dafür ein unverständliches Raunen und folgte Sabine aus der Praxis. Sie sah nicht besser aus als zuvor, hatte sich aber zumindest nicht mehr übergeben müssen, wie Paul nach einem kurzen Blick in den leeren Eimer feststellen konnte. Hätte man ihn gefragt, so hätte er mittlerweile auf eine psychische Erkrankung getippt, denn ihr Gesichtsausdruck änderte sich sekündlich von traurig in fröhlich, von verzweifelt in verliebt und wieder zurück. Sein Entschluss stand fest, er wollte nicht nachfragen und lieber abwarten. Würde Sabine mit ihm über ihren Arztbesuch reden wollen, so hätte sie das sicher schon getan. So wurde auf der Rückfahrt geschwiegen ...
Er stellte seinen Golf auf dem Parkplatz ab, half Sabine aus dem Wagen und hielt ihr gentlemanlike die Haustür auf. In Sabines Wohnung stellte er den Eimer im Bad ab und folgte seiner immer noch wenig gesprächigen Freundin in die Küche, wo sie sofort damit begann, ihre Kaffeemaschine zu befüllen. Wortlos stellte sie zwei Tassen auf den Tisch, startete die Maschine und verschwand im Badezimmer. Musste er sich Sorgen machen, sollte seine neue, große Liebe schwer erkrankt sein, war es so schlimm, dass sie es ihm nicht sagen wollte?
Sie kam zurück, nahm die Kanne und goss beide Tassen halb voll.
»Wenn du Milch brauchst oder Zucker, da!«, damit holte sie ein kleines Tablett aus dem Schrank und stellte es vor die Tasse ihres Freundes. Schwarzen Kaffee brachte er nicht hinunter, griff sich nacheinander Zuckerspender und Milchkännchen, rührte sich einen hellen Milchkaffee zusammen und betrachtete dabei besorgt jede fahrige Bewegung seiner sehr blassen Freundin. Endlich begann sie zu reden:
»Willst du gar nicht wissen, was ist?«, fragte sie.
»Doch, aber ich dachte, du willst nicht«, erklärte Paul sein bisheriges Schweigen.
»Ich will nicht nur, ich muss sogar darüber reden, aber ich möchte, dass du fragst!«
Paul war jetzt komplett verwirrt, wollte Sabine nicht unnötig gegen sich aufzubringen, musste Zeit gewinnen und setzte erst einmal die Tasse an, nippte kurz an seinem Kaffee, tat so als wolle er die Tasse absetzen, hob sie wieder an und nahm noch einen kleinen Schluck. Währenddessen suchte er nach den richtigen Worten, fand keine und hoffte kurz, dass ihm Sabine entgegenkommen würde, sah sie an und merkte schnell, dass damit nicht zu rechnen war, denn sie schien im Gedanken versunken auf ihn oder besser auf seine Erkundigung zu warten.
»Du warst lange beim Arzt, ist es was Schlimmes?«, fragte er schließlich.
Sabine reagierte, sah ihn einige Sekunden nur an, hob ihre Kaffeetasse und nahm einen Schluck. Ihr schien es ebenso schwerzufallen, einen Antwortsatz zu formulieren, wie zuvor ihm, seine Frage zu verbalisieren. Sie behielt ihre Tasse in der Hand, stützte sich mit beiden Ellenbogen auf den Tisch und begann, weil ihr offensichtlich die passenden Worte nicht einfallen wollten, zu weinen.
»Ja es ist was Schlimmes!«, schluchzte sie schließlich. »Nein, irgendwie nichts wirklich Schlimmes!«, schob sie nach einer kurzen Pause hinterher.
Wollte sie ihn jetzt komplett zum Wahnsinn treiben?
Er legte seinen Arm um sie und streichelte ihre Schulter. Sabine sah ihm direkt in die Augen. Sie fing sich langsam und sprach nun deutlicher:
»Es kann nur durchaus sein, dass es mir eine ganze Zeit immer wieder übel wird und dass ich mich noch oft übergeben muss.«
Paul war sofort sichtlich erleichtert und lächelte sie an.
»Ist doch egal, wie lange das dauert, du bist nicht allein, ich bin für dich da!«, wollte er seine kranke Freundin weiter aufmuntern.
»Ja, ich bin nicht allein du Spinner, ob du jetzt für mich da bist oder nicht!«, bekam er leicht stotternd zurück.
Was sollte das jetzt?
Hatte er bis eben nur die Vermutung, dass seine Freundin ihn in den Wahnsinn treiben wollte, so sah er sich jetzt absolut bestätigt und ja, sie war auf dem besten Wege ihr Ziel zu erreichen. Was war bloß los mit ihr? Sie war in der letzten Woche so lieb, so zuvorkommend und freundlich gewesen, nichts hatte darauf hingedeutet, dass sie sich so verwandeln konnte. Er nahm all seinen Mut zusammen, sah sie direkt an und versuchte etwas Strenge und Distanz in seine Stimme zu bekommen:
»Egal ob ich für dich da bin oder nicht? Das kann doch nicht dein Ernst sein, zweifelst du daran!? Was soll das eigentlich heißen, du bist auch ohne mich nicht alleine, hat sich dein Ex wieder gemeldet, weißt du nicht, was du willst?«, Paul hatte sich in Rage gesprochen, atmete kurz durch und setzte seine Rede fort: »Wenn du zweifelst, wenn du nicht willst, dann finde ich das schade, aber ...«
Sabine fasste seine Hand, sah ihm direkt in die Augen und er konnte nicht weitersprechen. Sie wollte reden, suchte wieder nach Worten, kaute auf ihren Lippen und begann erneut zu weinen. Paul kämpfte mit sich, merkte, dass er zornig wurde, holte tief Luft und wollte seine Rede zu Ende bringen, doch Sabine legte ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen, holte ebenfalls Luft und hauchte ihm entgegen:
»Ich bin schwanger du Idiot!«
Paul hatte den Panzer weder gesehen noch gehört, aber er traf ihn, er traf ihn ungebremst in voller Fahrt. Einen klaren Gedanken konnte er nicht fassen, an Reden war nicht zu denken und von Denken konnte keine Rede sein. Er saß da, mit halboffenem Mund und großen Augen, hielt seine Freundin weiter im Arm und hätte sich, selbst wenn er gewollt hätte, sich nicht von ihr lösen können. Sabine sah ihm die ganze Zeit ins Gesicht, prüfte jede Regung, wartete auf eine Reaktion, bekam keine, wurde nicht wütend, weinte nicht mehr und verzog selbst keine Miene. Sie wollte ihm Zeit lassen, sie spürte und sie konnte sehen, dass er zurzeit nicht voll anwesend war. Eine ganze Zeit blieben beide einfach so sitzen. Langsam, sehr langsam kam Paul zu sich, begann seine Finger zu bewegen, streichelte zunächst nur Sabines Schulter, zog sie dann an sich heran und drückte sie fest an sich.
»Meine Güte bist du doof!«, Paul sprach leise aber sehr bestimmt.
»Ich dachte, du willst mich loswerden und du kommst mir mit schwanger«, dabei lachte er leise und sprach sofort weiter: »Dann bist du halt schwanger, na und, dann heiraten wir halt, auch na und, und dann bekommen wir halt ein Kind, gleich dreimal na und!«
Darauf hatte Sabine gewartet, auch sie legte jetzt die Arme um ihren Freund, streichelte ihm durch die Haare und belohnte ihn mit einem langen und feuchten Kuss. Arm in Arm verließen sie die Küche und setzten sich nebeneinander auf die Couch. Paul legte den rechten Arm um sie und streichelte mit der linken Hand ihren Bauch. Er grinste sie an, bekam ein Lächeln zurück und begann sich selbst zu loben:
»Wer hätte das gedacht, erster Schuss und gleich getroffen, ist das eine gute Quote oder ist das eine gute Quote?«
Sabine lachte laut auf und gab ihm Recht:
»Wenn man es so sieht, ja da kann es keine zwei Meinungen geben. Einen Heiratsantrag hatte ich mir bisher immer anders vorgestellt, aber wenn das eben einer war, dann passte der wohl zur Situation.«
Paul grinste vor sich hin und auch Sabine sprach nicht weiter, sie sah ihren Freund nur an und schien dabei auf etwas zu warten. Der bemerkte zunächst nichts, reagierte aber dann doch irgendwann auf ihren fragenden Blick und ihr »lautes« Schweigen.
»Was hast du, hast du Angst, bist du unsicher?«
Sabine griff die Hand, die ihren Bauch gestreichelt hatte, hielt sie mit beiden Händen fest und sah ihren Freund verliebt an.
»Weißt du, ich hatte wirklich Angst vor einer Frage und ich bin dir unendlich dankbar dafür, dass du sie nicht gestellt hast. Ich will sie dir aber beantworten, bevor du sie jemals stellen kannst.«
Paul antwortete, ohne zu zögern: »Da gibt es keine Frage, für mich ist so weit alles klar, wenn das bei dir auch so ist, dann ist es doch gut.«
Sabine setzte sich auf, drückte seine Hand zur Seite und sprach ihn leise, aber sehr bestimmt an:
»Doch mir ist alles klar, aber ich will, dass niemals Fragen oder Zweifel aufkommen. Ich bin da ganz direkt, weil ich glaube, dass das hier so sein muss. Hör jetzt genau zu: Ich hatte mit Peter schon eine Ewigkeit keinen Sex mehr, er war nur selten hier und hatte, selbst wenn er hier war, kein Interesse. Das ist dein, nein unser Kind und solltest du einen Test machen wollen, dann habe ich da kein Problem damit.«
Paul antwortete nicht. Er drückte sie wieder an sich, küsste sie und streichelte dabei ihren Bauch.
Montag, 20:25 Uhr.
Alles war besprochen und Sabine verzichtete sogar großmütig auf einen erneuten und besser durchdachten Antrag. Es sollte so schnell wie möglich zusammengezogen werden und auch die Heirat sollte sehr zeitnah erfolgen. Nichts sollte dem Zufall überlassen werden. Paul hatte mit seinem Chef telefoniert, ihm erklärt, dass er am nächsten Morgen mit seiner »Zukünftigen« zum Frauenarzt wollte und auch noch einiges Andere in die Wege zu leiten hatte. Sein Chef gratulierte und man merkte ihm wirklich an, dass seine Freude nicht aufgesetzt war. Nach dem er aufgelegt hatte, überlegte er eine Weile, nahm dann doch wieder das Mobilteil von Sabines Station und wählte die Nummer seiner Mutter. Resi Meier musste auf seinen Anruf gewartet zu haben, denn es klingelte nur ein einziges Mal und sie hob ab.
»Meier!«, Paul sortierte noch einmal seine Gedanken und begann: »Hallo Oma, wie geht es dir, sitzt du?«
Zunächst bekam er keine Antwort. Er konnte beinahe hören, dass sich seine Mutter sicher war, richtig gehört zu haben, aber unsicher war, wie sie auf das Gehörte reagieren sollte. Sie brauchte einige Zeit, um reagieren zu können, und antwortete beinahe vorsichtig:
»Junge, ich hab dir schon ein paarmal gesagt, du sollst nicht so viel trinken!«
»Mama, ich hab nichts getrunken, ich wollte dir nur sagen, wir bekommen ein Kind und du wirst Oma!«
Paul hatte laut, sehr betont und bestimmt gesprochen. Wieder hatte seine Mutter mit dem Gehörten zu kämpfen und wieder bekam er zunächst keine Antwort. Es dauerte sogar noch länger als zuvor, ehe sie sich überwunden hatte und eine Frage formulierte.
»Du und wer bekommt ein Kind? Mein Sohn, ich hab noch nicht mal mitbekommen, dass du eine Partnerin hast. Jetzt sagst du, ihr bekommt ein Kind, wie ist das passiert?«
Paul lachte und gab zurück:
»Mama, für ein Aufklärungsgespräch dürfte ich bei dir zu spät kommen. Wie das eben so passiert, oder soll ich jetzt echt ins Detail gehen?«
Seine Mutter verneinte, war in hellem Aufruhr, lachte und weinte gleichzeitig, stellte einige für sie typische und unsinnige Frage und bekam die gewohnten Antworten. Sie gab ihrem Sohn zu verstehen, dass sie morgen gegen Nachmittag bei ihm vorbeikommen wollte, und da Paul wusste, dass er sie nicht davon abbringen konnte, versuchte er es gar nicht. Auch die werdende Mutter hatte ihren Eltern die freudige und unerwartete Nachricht zu überbringen. Paul saß auf der Couch, stellte fest, dass Sabines Eltern wohl recht locker und freudig damit umgingen, lehnte sich zurück und geduldete sich, bis Sabine das Mobilteil auf die Station zurückstellte, um sich wieder zu ihm auf die Couch zu setzen.
Alles, wirklich alles wurde nun zwischen den werdenden Eltern haarklein durchgesprochen und geplant. Eine größere Wohnung musste gemietet, ein Familienauto angeschafft, beim Standesamt das Aufgebot bestellt und die Hochzeitsfeier geplant werden. Wenn auch alles extrem schnell gegangen war und wenn das alles auch hundertmal sein bisheriges Leben auf den Kopf stellen würde, Paul freute sich aufrichtig. Vor knapp drei Wochen hatte er noch in den Tag hineingelebt, nichts wirklich Wichtiges geplant und alles auf sich zukommen lassen. Das war jetzt vorbei, alles hatte sich rasend schnell geändert und er war bereit, sich darauf einzustellen. Natürlich wollte er in Zukunft nicht mehr von ihrer Seite weichen und ab sofort würde er keine Nacht mehr alleine in seiner Wohnung verbringen. Erst sehr spät beendeten sie ihre Planungen im Wohnzimmer und schliefen Arm in Arm und mit seiner Hand auf ihrem Bauch kurz nacheinander ein.
12. Familie
Dienstag, 8:35 Uhr.
Paul wurde wach, als Sabine ihre Decke zurückschlug und gerade dabei war, das Bett zu verlassen.
»Geht es dir gut?«, fragte er und warf ihr einen besorgten Blick zu.
»Ja alles gut, mir ist etwas übel, aber ich weiß ja jetzt warum!«
Sie lächelte und verließ das Schlafzimmer. Auch er stand auf, schüttelte Kissen und Decken auf, legte alles ordentlich zusammen und wollte gerade das Schlafzimmer verlassen, als es an der Tür klopfte. Sabine war im Bad, also blieb ihm nichts anderes übrig, als selbst die Tür zu öffnen. Da schien jemand sehr ungeduldig zu sein, denn wieder klopfte es und diesmal lauter als zuvor. Paul öffnete die Tür einen Spalt, lugte hinaus, erkannte dahinter Peter und drückte sie so schnell es ging wieder zu.
»Ich wusste es, du kleiner mieser Penner, mach die Tür auf!«, schrie Sabines Exfreund.
Paul dachte nicht im Traum daran, seinem Kontrahenten diesen Wunsch zu erfüllen. Stattdessen rannte er ins Wohnzimmer, sprang in seine Jeans und warf sich das Shirt über. Sabine hatte das Badezimmer verlassen und redete durch die geschlossene Tür auf ihren Ex ein, der reagierte nicht im geringsten und wurde immer lauter und aggressiver.
»Kerl, wenn ich dich erwische, ich hau dich kaputt! Mach die beschissene Tür auf«, schrie er und folgte dabei mit jedem Wort dem Rhythmus seiner Schläge, mit denen er Sabines Wohnungstüre eindeckte. Paul stand hinter seiner Freundin und sah sie ängstlich an. Das Wissen, dieser Bedrohung körperlich nicht gewachsen zu sein, kratzte an seinem Selbstbewusstsein.
»Keine Sorge, wenn der nicht aufhört, dann rufe ich die Polizei.«
Das beruhigte Paul nur wenig, denn würde Peter jetzt die Tür eintreten, dann kam jede Hilfe zu spät. Sabines Ex trommelte weiter auf die Tür ein, brüllte wüste Beschimpfungen und war plötzlich still ...
Dass Peter einfach so aufgegeben hatte und abziehen würde, daran wollte Paul nicht glauben. Sabine wollte öffnen, vielleicht hatte er sich ja wirklich beruhigt und sie konnte mit ihm normal reden und ihm klar machen, dass sein Verhalten keinen positiven Effekt hatte. Sie öffnete zunächst nur einen Spalt, sah hinaus und riss die Tür dann ganz auf. Peter randalierte tatsächlich nicht mehr, das lag allerdings nicht an einem Umdenken oder einer Einsicht seinerseits, sondern war der Anwesenheit von Farhad und den italienischen Nachbarn geschuldet. Farhad und Francesco D´Violenza hatten sich Peter gegenüber aufgebaut, die Söhne des Italieners, Franco und Fabrizio, hakten sich auf einen Wink ihres Vaters auf beiden Seiten bei Peter unter, als wollten sie mit ihm spazieren gehen, und geleiteten ihn wenig freundlich in Richtung der Stufen. Sabine und Paul ließen die Szene auf sich wirken, mischten sich aber nicht ein. Farhad folgte den Dreien, legte seine Hand von hinten auf die breite Schulter des Bodybuilders und bohrte dabei seinen Daumen hart in den überdimensionalen Trapezmuskel.
»Sehe ich dich nur noch ein einziges Mal in der Nähe meines Freundes hier«, Farhad zeigte dabei auf Paul, »dann schwöre ich dir, du wirst am ganzen Körper Schwellungen haben, ganz ohne zu trainieren!«
Francesco rief hinterher: »Ich habe dich gewarnt und ich warne dich noch einmal, nähere dich nur noch ein einziges Mal diesem Haus oder meinem Wagen, dann werde ich dich gemeinsam mit meinen Söhnen in Beton gießen und entsorgen!«
Franco und Fabrizio lockerten auf ein Zeichen ihres Vaters den Griff etwas, Peter zog seine Arme heraus und rannte. Vater D´Violenza blinzelte Paul zu und flüsterte:
»Das wirkt immer.«
Peter rannte die Stufen hinunter, drehte seinen Kopf, um zu sehen, ob man ihn verfolgte, und wurde jäh von der Kante der sich öffnenden Haustüre gebremst, federte zurück, landete auf seinem Hinterteil, sah sich wieder um und stellte erschrocken fest, dass sich Farhad und die drei Italiener in Bewegung gesetzt hatten. Er sprang auf und rannte beim Verlassen des Hauses den völlig verdatterten Udo, der gerade mit einem Stapel Fertigpizzen den Hausgang betreten wollte, über den Haufen. Nur Sekunden später quietschten Autoreifen ...
Während Farhad die Pizzen aufsammelte, half Paul seinem Nachbarn Udo auf die Beine. Udo hatte, wie es schien, nicht wirklich mitbekommen, was passiert war, rückte seine Brille, die nun auf beiden Seiten gesprungen war, zurecht, faselte etwas von gestolpert, griff sich seine Kartons und torkelte an seinen kopfschüttelnden Nachbarn vorbei nach oben.
Sabine bedankte sich bei den Italienern und Farhad, Paul nahm die Gelegenheit wahr, um sich bei seinem Freund zu entschuldigen, und die beiden werdenden Eltern erzählten den versammelten Nachbarn von Sabines Schwangerschaft und ihren daraus resultierenden Umzugs- und Hochzeitsplänen. Die Italiener gratulierten überschwänglich und lautstark. Vater D´Violenza kündigte an, seine Söhne beim Hausbesitzer als Nachmieter für beide Wohnungen ins Gespräch zu bringen. Farhad klopfte seinem Freund lachend auf die Schulter und umarmte Sabine, um ebenfalls zu gratulieren. Familie D´Violenza verabschiedete sich nach oben und auch Sabine verließ das Treppenhaus, kehrte in ihre Wohnung zurück. So hatten Paul und sein Freund Farhad die Gelegenheit, sich in Pauls Wohnung bei einer Tasse Cappuccino auszusprechen. Paul erzählte auf seiner Couch sitzend in allen Details von den Erlebnissen der letzten beiden Wochen und davon, was für die nächste Zeit alles geplant worden war.
»Hast du keine Angst, dass alles etwas zu schnell geht?«, Farhad sah seinen Freund besorgt an.
»Ich Angst? Vor der Zukunft? Nein, wenn ich darüber nachdenke, dann hätte ich diese Angst vor der Zukunft doch bis vor etwa drei Wochen haben müssen. Ich hatte keine Angst und keinen Plan. Jetzt habe ich einen, warum sollte ich jetzt Angst haben!?«
Farhad nickte zustimmend. »Wenn es für euch beide passt, dann macht ihr alles richtig.«
Paul sprach sehr entschlossen weiter: »Mach dir keine Gedanken Farhad. Da passt alles, mir geht es dabei wirklich sehr gut.«
Farhad hielt Paul die Hand hin, der schlug ein und sein Freund hielt seine Hand fest.
»Wenn irgendwas ist, ich bin für euch da, vergesst das nicht!«
Paul bedankte sich und klopfte seinem Freund auf die Schulter. Farhad verabschiedete sich, verließ die Wohnung und ließ Paul alleine. Der holte sich aus seinem Schlafzimmer frische Klamotten, betrat sein Badezimmer, duschte ausgiebig und klopfte danach frisch und munter an Sabines Wohnungstür.
»Bist du fertig, können wir los?«, fragte Sabine.
Sie stand fertig angezogen mit Handtasche im Arm vor ihm.
»Wo willst du hin?«
»Ich wollte schnell bei meinen Eltern vorbeischauen, mein Vater ist heute extra daheimgeblieben und sie warten auf uns.«
Paul hatte kein Problem damit. Sabine wusste beinahe alles über seine Familie, hatte ihre aber bisher kaum erwähnt. Sie bestiegen Sabines Mini und fuhren los. Ihre Eltern wohnten in einer deutlich besseren Gegend auf der anderen Seite der Stadt und seine Freundin nutzte den Weg, um Paul zu erklären, was sie insbesondere von ihrem Vater wollte. Sabine beschrieb ihre Eltern in allen Einzelheiten, erklärte ihrem Freund aber auch, dass er der erste »Freund« wäre, den sie ihnen vorstellte, und dass sie deshalb natürlich keine Erfahrung haben konnte, wie sie reagieren würden. Paul erfuhr, dass ihr Vater Arzt war, früher eine kleine Praxis hatte, die er irgendwann aufgab, und jetzt seit Langem in einer Klinik angestellt war. Das Mehrfamilienhaus, in der früher die Praxis untergebracht war, gehörte ihren Eltern. Wohnen wollte Sabine dort bisher nicht, denn erstens wollte sie sich von ihrer Familie abnabeln und zweitens nannte man das Haus in ihrer Familie nicht umsonst »Villa Unruh«. Das Haus selbst hatte zu diesem Namen wenig beigetragen, aber die Menschenkenntnis ihres Vaters sorgte dafür, dass sich ihre Mutter immer wieder am Telefon mit den schrägsten Mietern herumärgern musste. Verkaufen wollte man das Haus auch nicht, denn schon ihr Großvater war Arzt gewesen und hatte dort praktiziert. Zunächst hatte der die Praxis gemietet, als ihr Vater mitarbeiten konnte und dazu verdiente, wurde das Haus gekauft. Irgendwann übernahm ihr Vater Praxis und Patienten, seine Familie bezog die Wohnung daneben und Sabine verbrachte dort die ersten und schönsten Jahre ihrer Kindheit.
Ihre Eltern bauten später ein kleines Einfamilienhaus, vermieteten alle vier Wohnungen der »Villa Unruh«, ließen aber die Praxis in der Hoffnung, dass ihre Tochter in die Fußstapfen des Vaters treten würde, leer stehen. Ja eigentlich verstand sie sich mit ihren Eltern wirklich hervorragend, hatte aber nun mal ihren eigenen Kopf, wollte sich selbst etwas aufbauen und Arzt war nie ihr Traumberuf gewesen. Sicher, Physiotherapeut ähnelte dem Ganzen, und als sie studierte, konnte ihr Vater hin und wieder helfen. Aber sie wollte sich nicht mit den Dingen herumplagen, die das Tagesgeschäft eines Hausarztes ausmachten. Husten, Schnupfen, Kinderkrankheiten, wenn es ernst wurde, eine Überweisung schreiben. Sie wollte praktisch arbeiten, sie wollte mit Sport arbeiten und ihren Patienten helfen, bevor sie zum Arzt mussten, um operiert zu werden. Oft hatte sie in ihrem Beruf mit Patienten zu tun, bei denen durch jahrelange falsche Beanspruchung ihres Körpers eine Operation unausweichlich gewesen war und die sich oft nie wieder normal oder schmerzfrei bewegen konnten. Vorher wollte sie ansetzen, die Menschen mussten verstehen, dass die richtige Bewegung, der richtige Sport und die richtige Ernährung einer OP vorbeugen konnten.
Ihr Vater fand den Ansatz grundsätzlich lobenswert, fragte sich aber gleichwohl, warum ausgerechnet seine Tochter ihren Vater arbeitslos sehen wollte. So beließ man es bei den familiären Kontakten, unterhielt sich über Alltägliches und sparte das Berufliche komplett aus. Das würde heute nicht funktionieren, was Sabine schon etwas ärgerte ...
Paul wusste zu alledem nichts zu sagen, hörte einfach zu und machte sich dennoch seine Gedanken. Einen Arzt in der Familie zu haben, musste schon faszinierend sein. Solche Berufe gab es in seiner ganzen Sippe nicht, die Meiers waren seit jeher Handwerker oder Fabrikarbeiter gewesen. Auch seine Eltern waren nicht zu Höherem berufen gewesen, hatten sich auf der Hauptschule kennengelernt, eine Rentnerin und einen Handwerker gezeugt und somit für die Gesellschaft eine Pattsituation hinterlassen. Ob seine Mutter auf dieser Hauptschule lernte oder nur Bekannte besuchte, als sie ihrem späteren Ehemann begegnete, war eine Frage, die sich Paul schon hin und wieder stellte, die er aber nie aussprach ...
Ärzte waren ihm grundsätzlich nicht unsympathisch, konnten privat sicher nett sein und alleine ihre Bildung ließ auf interessante Unterhaltungen hoffen. Beruflich wollte er Angehörigen dieses Berufsstandes eher nicht begegnen und war der festen Überzeugung, dass man entweder krank zum Arzt geht oder krank vom Arzt kommt. Die Einzige ihm bekannte Person, die wirklich beinahe familiäre Beziehungen zu ihren Ärzten unterhielt, war seine Schwester Gisela und bei ihr musste die Krankenkasse dafür bezahlen. Sabine hielt an einem kleinen Blumengeschäft, ließ Paul im Auto sitzen und drückte ihm beim Zurückkommen einen kleinen Strauß in die Hand. Er sollte bei ihrer Mutter einen guten Eindruck hinterlassen und Blumen waren zwar ebenso sinnvoll wie einfallsreich, wurden aber einfach erwartet, wenn man seine zukünftigen Schwiegereltern zum ersten Mal besuchte.
Die Gegend hier gefiel Paul sehr gut, alles war grün, jedes Haus war umgeben von einem großen Garten und die Besitzer standen scheinbar in einem nie enden wollenden Wettbewerb um den schönsten. Sabine bremste, bog nach links ab und hielt vor einem relativ großen Garagentor, kramte in ihrer Handtasche, zog eine Fernbedienung hervor und drückte. Das Tor öffnete sich, Sabine fuhr in die Garage ein und stellte ihren Wagen auf einem der vier Parkplätze ab. Eine größere schwarze Limousine und ein kleines rotes Cabrio waren dort schon abgestellt worden. Paul nickte seiner Freundin zu und kommentierte anerkennend:
»Nobel, nobel.«
Sabine lachte ihn an und gab zurück:
»Ja, wenn mein Vater schon keine Zeit hat, wegen seiner Arbeit, dann soll es doch wenigstens Mama gut gehen.«
Das Tor schloss sich und Sabine drückte die Klinke der gegenüberliegenden Tür herunter und betrat einen kleinen Flur. Paul folgte ihr, nicht ohne nochmal einen Blick auf die hinter ihm geparkten Fahrzeuge zu werfen. Der Flur führte direkt in das Wohnzimmer, wo Sabines Eltern auf einem großen Sofa auf die beiden gewartet hatten. Pauls erster Blick fiel auf die Mutter seiner Freundin. Sabine hatte ihm erzählt, dass sie fünfundvierzig Jahre alt sein sollte, was man ihr definitiv nicht ansah. Sie hätte ohne Weiteres die ältere und deutlich größere Schwester seiner Zukünftigen sein können. Auch sie war blond, sehr schlank und schon auf den ersten Blick war ihm klar, von welcher Seite der Familie Sabine ihre Oberweite geerbt hatte. Der Vater war Ende fünfzig, klein und rundlich, trug einen kurzen, dichten, grauen Vollbart und dichtes graues Haar. Sicher hatte auch er obenherum mehr als die meisten seiner Geschlechtsgenossen, aber im Vergleich zu Sabines Mutter war er doch eher schmalbrüstig. Während die Mutter mit Jeans und Shirt bekleidet war, trug der Herr des Hauses scheinbar auch privat am liebsten Anzug und Krawatte. Sabines Mutter sprang auf, rannte auf ihre Tochter zu und unter:
»Mein Kind, mein Baby, meine Süße ...«, wurde Sabine umarmt, geküsst und ihre Frisur komplett durcheinandergebracht. Danach war Paul dran, er stellte sich vor, überreichte den Blumenstrauß und bekam dafür zuerst die Hand der Mutter und dann einen Kuss auf die Wange, danach verließ Sabines Mutter mit den Blumen das Wohnzimmer. Dafür erhob sich jetzt ihr Vater. Er umarmte seine Tochter und besah sich ihren Freund genauer, während er ihm seine Hand entgegenstreckte.
»Junger Mann, betreiben sie Kampfsport?«, fragte er anerkennend.
»Ich nein, warum!?«, Paul wurde nervös, hatte ihr Vater noch Spuren seiner zahlreichen Blessuren der letzten Zeit entdeckt? Er ergriff die Hand des Vaters, bekam auf die Schulter geklopft und bemerkte sofort, dass Sabines Vater wohl eher selten etwas entging.
»Sie sollten mal einen Kardiologen aufsuchen und den Kaffeekonsum deutlich reduzieren, meine Frau kann ihnen später gleich einen Termin bei Dr. Gundermann machen.«
Sabine lächelte ihren Vater an und wollte ihn bremsen:
»Papa du bist zu Hause!«
»Ich, ach so, was meinst du?«, reagierte der verständnislos.
Sabine ging nicht weiter darauf ein, wies Paul einen Platz zu und setzte sich daneben. Ihr Vater musterte den Freund seiner Tochter noch immer und stellte die nächste Diagnose:
»Kann es sein, dass sie Probleme mit der Hals- beziehungsweise Brustwirbelsäule haben? Sie belasten sich zu einseitig, ich würde ihnen den Besuch einer Rückenschule nahelegen. Soll ihnen meine Frau einen Termin machen?«
Paul antwortete nicht und sah seinen zukünftigen Schwiegervater nur völlig verdattert an.
»Herr Doktor, könnten sie ihre Krankheitserkennung für die Dauer des Besuches ihrer Tochter unterbrechen?«, Sabines Mutter hatte das Wohnzimmer betreten, warf ihrem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu, lachte aber dabei und stellte die Vase auf den Tisch. Danach verließ sie das Wohnzimmer wieder, um kurze Zeit darauf mit einem Tablett zurückzukommen. Sie verteilte die Tassen auf dem Tisch und platzierte mittig ein Schüsselchen mit Kaffeegebäck. Währenddessen verließ Sabine das Zimmer und kam mit einer Kaffeekanne zurück, befüllte die Tassen und setzte sich neben ihren Freund. Sabines Mutter drückte sich ungeniert dazwischen und wollte sofort zum Punkt kommen:
»So ihr zwei, erzählt mal!«
»Mama, ich hab doch alles am Telefon erzählt und es ist bisher nichts Neues passiert!«
Sabines Mutter tätschelte ihrer Tochter den Oberschenkel und fragte genauer:
»Dann erzählt doch mal, was ihr geplant habt, wie es jetzt weitergeht. Ihr müsst doch Pläne haben, ihr könnt ja nicht weitermachen wie bisher. So ein Kind verändert doch alles!«
Immer noch mischte sich Sabines Vater kein Stück in die Unterhaltung ein, hielt sich stattdessen an der Schüssel fest und angelte sich nach und nach die Kekse mit Schokoglasur heraus.
»Hans möchtest du nicht anfangen?«, Sabines Mutter hatte ihren Mann angesprochen, bekam aber nur ein kurzes »Womit?« und Achselzucken zurück. Notgedrungen fing also doch Sabine an zu erzählen. Sie berichtete in allen Einzelheiten von der Übelkeit, die sie plagte, von dem Besuch beim Hausarzt und natürlich auch von den Plänen, sich eine andere Wohnung zu suchen und zu heiraten. Ihre Mutter nickte dabei verständnisvoll, sah ihren Mann dabei beinahe abwartend an und strich ihrer Tochter hin und wieder die Haare nach hinten. Der Herr des Hauses reagierte nicht, hatte sich nach hinten gelehnt, zupfte mit der linken Hand an seinem Vollbart herum und schien alles auf sich wirken zu lassen. Insgesamt konnte man den Eindruck gewinnen, er würde im Kopf die Kosten all dieser Veränderungen überschlagen. Sabine hatte ihre Erzählung beendet und wartete gemeinsam mit ihrer Mutter auf eine Reaktion des Familienoberhauptes.
»Haben sie dazu etwas zu sagen?«, Sabines Vater hatte Paul nun direkt angesprochen. Der zögerte und konnte nicht schnell genug antworten, scheinbar hatte Sabines Vater auch nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet. Er setzte sich beinahe huldvoll auf, zog einen kleinen Notizblock aus der Hosentasche, klopfte zunächst mit seinem Kugelschreiber einige male darauf herum und begann dann relativ emotionsfrei die Punkte, die er sich zuvor notiert hatte, abzuarbeiten.
»Erstens, es gibt von mir kein Bargeld!«, begann er mit bestimmendem Unterton.
Sabine setzte einen Schmollmund auf und ihre Mutter winkte kopfschüttelnd ab.
»Hättest du nicht mit zweitens anfangen können?«, wollte sie ihren Ehemann unterbrechen. Der fuhr jedoch ungerührt fort:
»Zweitens, ihr bezieht die Praxiswohnung, die ihr euch mit Hilfe von Mutter einrichten könnt. Die Praxis wird so eingerichtet, dass du darin arbeiten und dein eigenes Geld verdienen kannst. Drittens, eine kleine Hochzeit wird reichen, die bezahlt ihr komplett selbst! Und viertens, dein Zukünftiger gibt in der Villa den Hausmeister und alles bleibt in meinem Besitz!«
Jetzt sah er zuerst Sabine und dann Paul fragend an. Sabine stand auf und setzte sich neben ihren Vater, drückte sich an ihn und fragte:
»Ich kenne dich, wie sind die Bedingungen?«
Ihr Vater legte den Arm um sie, atmete tief durch.
»Bedingungen gibt es! Erstens: Die Hausmeistertätigkeit von ihm hier«, dabei zeigte er auf Paul, »und zweitens: Da ich die Hoffnung auf die Fortführung unserer Familientradition noch nicht aufgegeben habe und hoffe, dass wenigstens mein Enkel in meine Fußstapfen treten wird, möchte ich, dass ihr unseren Familiennamen tragt. Darüber hinaus möchte ich – das ist aber keine Bedingung –, dass mein Enkelkind, sollte es ein Junge werden, nach mir und meinem Vater »Hans« benannt wird.«
Jetzt ruhten drei Augenpaare auf Paul. Der druckste zunächst etwas herum, warf Sabine fragende Blicke zu und antwortete mit einer Frage:
»Hausmeister, wäre aber kein Vollzeitjob? Also ich kann trotzdem arbeiten gehen?«
»Wenn du das alles schaffst, ihr müsst euch einig werden, wer das Kind großzieht! Geld bekommst du für die Hausmeistertätigkeit nicht, aber dafür müsst ihr keine Miete zahlen!«, konterte Sabines Vater.
Man konnte Sabine ansehen, dass sie auf eine positive Antwort hoffte. Sie grinste ihren Freund verliebt und fragend an. Beide Elternteile hatten ihre Tochter unterstützend in den Arm genommen und warteten mit Sabine auf Pauls Entscheidung. Der stand auf, ging zwei Schritte auf den Arzt Hans Herbert zu und streckte ihm seine Hand entgegen. Hans stand auf, nahm die Hand, zog Paul an sich heran und umarmte ihn.
Sein Satz: »Willkommen in der Familie Herbert!«, war scheinbar das Startsignal für die weiblichen Mitglieder der Familie gewesen. Sie umarmten sich zunächst gegenseitig und legten dann die Arme um die beiden Männer. Nachdem sich alles beruhigt hatte, saß die Familie noch eine Weile zusammen, denn wirklich geklärt war noch gar nichts! Paul und Hans wurden nur noch am Rande wahrgenommen, denn Mutter und Tochter hatten nun die Regie übernommen. Sie planten im Groben die Einrichtung der Wohnung und ließen nur hin und wieder Fragen oder Einwände der männlichen Zaungäste zu. Bei der Verabschiedung bekam Paul beinahe feierlich einen großen Schlüsselbund überreicht und sein zukünftiger Schwiegervater machte deutlich, dass er von Paul erwartete, die »Villa Unruh« zu befrieden. Paul hatte nicht die leiseste Vorstellung, was das Problem mit dem Mietshaus sein konnte, versprach aber sein Bestes zu geben. Nur kurze Zeit später begaben sich die werdenden Eltern auf den Heimweg.
13. Party
Dienstag, 18:40 Uhr.
Noch am gleichen Abend kamen Pauls Mutter und seine Schwester Gisela zu Besuch. Paul und Sabine erzählten von ihren Plänen, von Sabines Familie, und Paul entging dabei nicht, dass Giselas Augen anfingen zu glänzen. Er beeilte sich zu erwähnen, dass das Haus im Besitz der Eltern seiner Freundin bleiben würde und er nach wie vor nicht reich wäre. Er machte klar, dass er sogar weniger Geld zur Verfügung haben würde als zuvor und schon wegen des Kindes, der Hochzeit und den Kosten für Umzug und was da noch alles kommen würde, von ihm nichts mehr zu erwarten war. Paul hatte damit gerechnet, dass vor allem Gisela ihren Unmut über diese für sie ja völlig neue Situation Ausdruck verleihen würde, aber das tat sie erstaunlicherweise nicht im Ansatz. Sie schien sich tatsächlich einfach nur darüber zu freuen, dass sie Tante werden würde. Den Einwand seiner Mutter, dass, sollte Sabine einen Jungen zur Welt bringen, Gisela ja dann Onkel werden würde, kommentierten weder Gisela noch Paul. Der hatte damit zu tun, Sabine, die sich wegen des Zwischenrufes seiner Mutter an einem Stück Schokolade verschluckt hatte, auf den Rücken zu klopfen.
Man saß noch eine ganze Weile zusammen, sprach über alles Mögliche, Paul genoss den Umstand, gefühlt das erste Mal seit seiner Jugend mit seiner Familie an einem Tisch zu sitzen und keine Angst um sein Sauerverdientes haben zu müssen. Erst spät verabschiedeten Sabine und Paul ihren Besuch und ließen sich schon kurz danach in ihr Bett fallen, um beinahe gleichzeitig einzuschlafen.
Die nächsten Wochen zusammengefasst.
Schon als Paul am nächsten Tag von der Arbeit kam, wurde die neue Wohnung und Sabines zukünftige Praxis besichtigt. Sabines Mutter war wie angekündigt dabei und schrieb alles, was gebraucht wurde, zusammen, beriet ihre Tochter und erklärte, dass die sich keine Gedanken über die Kosten machen sollte. Sie würde schon aufpassen, dass sich alles in einem Rahmen halten würde, der mit ihrem Ehemann abgesprochen war. Sabine hatte ihre Wohnung gekündigt und nicht vergessen, die Söhne der Familie D´Violenza als Nachmieter ins Gespräch zu bringen. Die neue Wohnung sollte im nächsten Monat bezugsfertig sein. Also würde die Hochzeitsnacht in der neuen Wohnung stattfinden und ob er nun wollte oder nicht, Pauls kleiner Freund musste bis dahin wieder einsatzbereit sein. Dr. Achmed entfernte die Fäden, gab Paul den Rat, nicht allzu sehr an seiner Vorhaut herumzureißen, wenn er wieder an sich selbst »herummanipulieren« würde. Paul wollte nichts mehr erklären, gelobte Besserung und hatte seine liebe Mühe, Sabine die nächsten Tage oder besser Nächte davon abzuhalten, die Funktionsfähigkeit seines Genitals zu prüfen. So kurz vor der Hochzeitsnacht wollte er stur bleiben, nichts mehr riskieren und diese Nacht damit zu etwas wirklich Besonderem machen.
In den nächsten Tagen standen Besuche beim Frauenarzt und beim Standesamt an. Das Aufgebot wurde bestellt und die Hochzeit konnte geplant werden. Es sollte keine große Feier geben, denn kirchlich wollten beide nicht heiraten, was die Planung deutlich vereinfachte. Farhad sollte Pauls Trauzeuge werden und wollte die Planung des Junggesellenabschieds übernehmen. Sabines Vater war unter der Bedingung, dass er daran teilnehmen durfte, bereit, alle Kosten für den letzten Abend, den Paul als »Freier Mann« verbringen sollte, zu tragen. Dass Sabine mit Gisela den Abend vor der Hochzeit verbringen wollte, sorgte bei Paul für einiges Unbehagen, er hoffte aber, dass alles gut gehen würde. Was blieb ihm auch anderes übrig ...
Montag, 4 Wochen später.
Paul hatte für diese Woche Urlaub bekommen, morgen würde die standesamtliche Trauung stattfinden und heute Abend sollte er es mit Farhad und seinem zukünftigen Schwiegervater krachen lassen. Seine Zukünftige hatte schon früh die Wohnung verlassen und war zu ihren Eltern gefahren. Bis morgen früh würde er sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er hatte versucht, so lange wie möglich im Bett zu bleiben, aber die tausend Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, verhinderten das Weiterschlafen und so stieg er gegen zehn Uhr aus dem Bett. Die erste Tasse Cappuccino genoss er im Wohnzimmer. Sein geliebter Kaffeeautomat war mit ihm bei Sabine eingezogen und hatte seinen Platz auf der Küchenzeile gefunden.
Den größten Teil seiner eigenen Einrichtung hatte er verkauft, die Küche seinem Nachbarn Udo geschenkt und den Rest schon so verpackt, dass der eigentliche Umzug nicht mehr der Rede wert sein würde. Die Nachmieter wollten die beiden Wohnungen so übernehmen, wie sie waren, sodass man sich auch die Renovierung sparen konnte. Direkt nach der Hochzeit würde die neue, fertig eingerichtete Wohnung bezogen werden und nach und nach die Umzugskartons nachgeholt werden. Alles war bis ins kleinste Detail durchgeplant und genau dieser Umstand sorgte bei ihm für einiges an Unbehagen. So war es doch immer, umso mehr geplant war, umso mehr konnte schiefgehen und den ganzen Plan unwirksam werden lassen.
Er zog sich aus einem der Kartons, die in seinem Schlafzimmer gestapelt worden waren, frische Wäsche, duschte ausgiebig, stopfte die Schmutzwäsche in eine Tüte und zog sich an. Nur kurze Zeit danach bestieg er seinen Golf und fuhr in die Stadt, um beim Juwelier die bestellten Ringe abzuholen. Der erste unsichere Punkt war also abgearbeitet, die Ringe tatsächlich rechtzeitig fertig geworden und auch die Gravur passte. Die Eheringe, die er zusammen mit Sabine ausgesucht hatte, bezahlte er aus seiner Tasche, das ließ er sich nicht nehmen und auf den Cent wollte er bei diesen Schmuckstücken nicht achten. Bisher kostete ihn seine Eheschließung deutlich weniger, als er zuvor für seine Schwester ausgeben musste. Alles hielt sich in einem erträglichen Rahmen und durch den Verkauf seiner Einrichtung hatte sich auf seinem Konto kaum etwas verändert.
Wieder in Sabines Wohnung legte er das Etui auf dem Küchentisch ab und ließ sich mit einer Flasche Cola auf der Couch nieder. Er hatte nichts weiter zu tun, er musste warten und überlegte, ob es sinnvoll wäre für diese Zeit seinen schon verpackten PC wieder hervorzuräumen. Beim Gedanken an den Aufbau, den Kabelsalat und den dann nötigen Abbau verwarf er diese Idee ebenso schnell, wie sie ihm gekommen war. Gezockt hatte er schon ewig nicht mehr und er vermisste die Zockerei seltsamerweise auch gar nicht. Sein Computer war wohl doch nur ein Mittel gewesen, sich abzulenken. Diese Ablenkung brauchte er nicht mehr und er hatte sich vorgenommen, auch in Zukunft nur am Computer zu sitzen, wenn weder seine Frau noch sein Kind in der Nähe waren. Er lehnte sich zurück und wartete weiter, bemerkte dabei, dass die Zeit nicht vergehen wollte, sah immer wieder auf sein Handy, auf dem keine neue Nachricht und nur sehr selten eine neue Uhrzeit angezeigt wurde.
Vielleicht hätte er sich für heute doch noch etwas vornehmen sollen, aber es war ja alles verplant, minutiös, Schritt für Schritt, nichts war offen ... Das einzig Unvorhersehbare sollte heute Abend ablaufen. Wohin es gehen sollte, wusste er nicht, denn Farhad hatte die Planung des Junggesellenabschieds geheim gehalten und Paul hoffte nur, dass Farhad ihm und vor allem seinem zukünftigen Schwiegervater nicht zu viel zumuten würde. Wirkliche Bedenken kamen aber nicht auf, er hatte seinen Freund zwar als Spaßvogel, aber sicher nicht als unüberlegt kennengelernt. So verbrachte Paul den Rest des Tages auf der Couch, schaltete sich durch alle Kanäle, döste hin und wieder weg und ließ sich am späten Nachmittag eine Pizza bringen. Das Gefühl der Langeweile und gleichzeitig Vorfreude wurde nach dem Essen immer stärker, er hatte einfach nichts zu tun, außer weiter abzuwarten. Die Uhr schien stehengeblieben zu sein, zehn Minuten fühlten sich an wie eine Stunde.
Er nahm den Pizzakarton, stopfte ihn im Hof in die Papiertonne und ging danach kurz durch seine beinahe leere Wohnung. Er war immer stolz darauf gewesen, seine erste Wohnung ohne Schulden und ohne Hilfe eingerichtet zu haben. Er hatte sie ohne Hilfe renoviert, eingerichtet und sich unzählige Tage und Nächte hier wirklich wohl gefühlt. Nie vermisste er hier etwas, was hätte er auch vermissen sollen, er kannte nichts anderes und war mit seinem Leben hier zufrieden gewesen. Ab morgen wäre sein Leben dauerhaft ein anderes, er hatte nicht mehr »Seine Wohnung« und Sabine »Ihre«, dieses »Ich« würde gestrichen werden und durch »Wir« ersetzt. Verantwortung, die er vorher nur für sich hatte, hatte er ab morgen für seine Frau und für sein ungeborenes Kind. Sicher hatte er diese Verantwortung schon seit er wusste, dass er Vater werden würde, aber ab morgen war alles hochoffiziell. Paul Egon Meier gab es ab morgen nicht mehr als Einzelperson, morgen würde er durch Paul Egon Herbert den Ehemann und baldigen Familienvater ersetzt.
Tat es ihm leid, hatte er ein schlechtes Gefühl bei diesen Gedanken? Nein, ganz im Gegenteil, er war froh, nicht mehr alleine hier in dieser Wohnung sitzen zu müssen, er freute sich darauf, nicht mehr alleine zu sein und Vater zu werden. Sorgen machten ihm lediglich der Hausmeisterjob und die Frage, ob er die neue Aufgabe und seine bisherige Arbeit unter einen Hut bringen würde. Sabine wollte nicht die Hausfrau geben, so viel war klar. Mit der Einrichtung ihrer Praxis hatte sie Tatsachen geschaffen und ihm klar gemacht, dass er Abstriche machen musste. Er hatte Verständnis, sie hatte studiert, sich weitergebildet und sie sah ihren Beruf eben nicht als Beruf, sondern als Berufung. Er verließ seine »alte« Wohnung, setzte sich in »Sabines Wohnung« auf die Couch und lenkte sich mit den Neunzehn-Uhr-Nachrichten ab. Paul hatte gerade den Fernseher ausgeschaltet und sich eine Tasse seines Lieblingsgetränkes zubereitet, als es endlich an der Tür klingelte. Paul öffnete und Farhad betrat lachend und mit einer Stofftasche, die er in seiner Hand hin und her schwingen ließ, den kleinen Flur.
»Na Junge, bist du schon gespannt?«
Nein, gespannt war nicht das richtige Wort! Paul hatte beinahe Angst. Irgendwo im Mittelpunkt zu stehen, das war wieder so ein Gefühl, welches er zuvor nie kannte und nie vermisst hatte. Farhad zog wortlos grinsend ein blaues T-Shirt aus der Tasche und hielt es seinem Freund entgegen. Der regierte zunächst nicht und bekam das Shirt über die Schulter geworfen.
»Da, anziehen!«
Paul nahm das Shirt, drehte es herum, und ließ den Aufdruck einige Zeit auf sich wirken.
»Das ist nicht dein Ernst?«
Farhad lachte laut auf und antwortete beinahe gehässig: »Oh doch, ist es, mach zieh an!«
Auf dem Shirt waren Brüste aufgedruckt, die entweder den Stoff gesprengt hatten oder freigeschnitten worden waren. Dieser Effekt war wirklich sehr gut getroffen und Paul war sich sicher, würde ihm eine Frau mit diesem Teil entgegenkommen, er müsste schon sehr genau hinsehen, um zu bemerken, dass das eben nur ein Aufdruck war. Was er allerdings verbrochen hatte, dass sein Freund von ihm verlangte dieses Teil zu tragen, erschloss sich ihm nicht. Farhad griff nach dem Stoff und zog ihn weiter nach unten. Direkt unter den Brüsten kamen die beiden Worte »Drück mich!« zum Vorschein.
»Drück mich!«, flüsterte Farhad seinem »angeblichen« Freund zu.
Das Diskutieren würde nichts bringen, also zog Paul sein Shirt aus und zwängte sich in das blaue. Das Teil war ihm, schon als er es in der Hand hielt, sehr klein vorgekommen und selbst mit Farhads Hilfe hatte er seine liebe Mühe hineinzukommen. Sein »ehemaliger« bester Freund hatte sich nicht etwa in der Größe vertan, sondern offensichtlich in voller und böswilliger Absicht genau dieses gekauft. Das Ding war hauteng und bauchfrei. Die Höfe der aufgedruckten Brüste standen etwas hervor und als Paul noch ungläubig an sich herunterschaute, drückte Farhad auf eine der beiden Brustwarzen.
Es quietschte ...
»Oh Gott nein!«, Paul sah Farhad vorwurfsvoll an.
»Die andere stöhnt!«, gab der tröstend zurück und löste sofort den eben erwähnten Mechanismus aus. Ein lautes, weibliches Stöhnen erklang und wurde nur von Farhads lautem Lachen übertönt.
»Prima ich freu mich!«, Paul winkte ab.
»Hier, wir sind noch nicht fertig!«, damit setzte Farhad seinem Freund einen weißen Kranz mit Schleier auf den Kopf. »Jetzt bist du fertig und wir können los!«
Ja, sein ehemals bester Freund, der sich in nur wenigen Minuten zu seinem wohl schlimmsten Feind entwickelt hatte, hatte Recht. Er war fertig, fix und fertig! Beim Gedanken sich so in der Öffentlichkeit bewegen zu müssen verging ihm alles, aber er wusste, dass er aus dieser Nummer selbst mit Jammern, Betteln und Strampeln nicht herauskommen würde.
»Wer solche Freunde hat, der fürchtet keine Feinde!«, Paul hatte auf Farhad gezeigt. Der registrierte zwar den Unmut seines Freundes, reagierte darauf aber nur mit einem hämischen Grinsen.
»Los gehts, lass uns Spaß haben!«, Farhad schob Paul vor sich her aus der Wohnung, die Stufen hinunter und aus dem Haus. Ein Taxi hatte wohl die ganze Zeit gewartet und Paul wurde sanft aber bestimmt in den Fond des Mercedes gedrückt. Farhad musste dem Fahrer schon zuvor genaue Instruktionen gegeben haben, denn kaum saßen seine Gäste auf dem Rücksitz, drehte er die Musik lauter und chauffierte sie ohne ein weiteres Wort in die Innenstadt. Auch die Zahlungsmodalität war wohl im Vorfeld erledigt worden, denn direkt nachdem die Freunde den Wagen verlassen hatten, setzte der sich in Bewegung und fuhr davon. Paul wurde bereits erwartet ...
Um eine Schubkarre herum hatten sich sein Chef, Udo, die männlichen Mitglieder der Familie D´Violenza, Basti und sein zukünftiger Schwiegervater versammelt. Alle trugen blaue Shirts mit dem phosphoreszierenden Aufdruck »Pauls Security«. Die Schubkarre war gefüllt mit kleinen Schnapsfläschchen, Bier und Energydrinks, auch eine Großpackung Kondome hatte Paul zwischen all den Flaschen und Dosen entdeckt. Farhad baute sich mittig, umringt von seinen offenbar vorher informierten Spießgesellen auf, hob den rechten Arm und begann huldvoll seine Rede:
»Wir haben uns hier und heute zusammengefunden, um unseren Freund Paul zu betrauern.«
»Hört, hört!«, gaben die anwesenden Herren zurück.
Farhad atmete einige male tief durch, griff seinen Freund an der Schulter, setzte ein mitleidiges Gesicht auf, tat so, als würde er sich eine Träne wegwischen, und fuhr fort:
»Er soll feiern, er soll saufen, er soll zu den Mädels laufen. Er darf spüren, er darf küssen, ab morgen wird er all das müssen. Die letzten freien Schritte, nehmen wir ihn in die Mitte und werden ihn heute spüren lassen, was er muss für immer lassen. Der Alk und Weiber sind nun bald tabu, ein Frauenschwarm der setzt sich heut zur Ruh und Morgen nun zu dieser Stund, treibt er es nur noch halb so bunt. Die Freiheit ist ihm dann entrissen, aber heute ist darauf geschissen!«
Geklatsche und »Hört, hört!«-Rufe der übrigen Gäste beendete Farhads Auftritt. Jetzt sprach er Paul direkt an:
»So, du weißt, was du zu tun hast? Du verkaufst den Inhalt der Schubkarre für jeweils zwei Euro pro Teil.«
Paul hätte im Erdboden versinken können, jeder, wirklich jeder der vorbeikam, wurde von der Gruppe angesprochen und Paul musste versuchen ihm ein Teil aus der Schubkarre anzudrehen. Nach dem Verkauf durfte jeder auf seine Nippel drücken und den Schleier lüften, um ihn zu küssen. Während der ganzen Aktion nahmen gottlob »nur« zwei Männer die Gelegenheit wahr, ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Der eine war extrem betrunken und stank fürchterlich, der andere küsste ganz offensichtlich öfter Männer und roch auch nicht besser. Frauen drückten ihm auch hin und wieder einen auf, hatten aber auch kein Problem damit, seine Brustwarzen zum Stöhnen oder Quietschen zu bringen. Und ja, nachdem sich der gefühlt eintausendste Finger in seine Brust gebohrt hatte, stöhnte und quietschte Paul vor Schmerzen mit. Trotz allem, Paul wurde lockerer, er leerte einige Schnäpschen mit seiner Security und um den schlechten Geschmack aus dem Mund zu bekommen, spülten alle kräftig mit Bier nach. Nach einer gewissen Zeit hatte er richtig Gefallen an dem Junggesellenabschied gefunden und selbst sein ehemaliger Lehrling Basti kam aus sich heraus, grölte herum und sprach jedes weibliche Wesen an, welches ihm entgegenkam.
In der Schubkarre war jetzt nichts mehr, was man hätte verkaufen können. Farhad führte seinen Freund wieder zu einem Taxi, beide stiegen ein und mit lauter Musik und Gegröle ging es durch die Stadt. Paul hatte das Gefühl, dass der Taxifahrer einige Male im Kreis fuhr, aber auch das schien mit seinem Trauzeugen abgesprochen zu sein. Der Fahrer lenkte sein Fahrzeug irgendwann dann doch in Richtung ihres Wohnhauses, fuhr aber daran vorbei und hielt vor Wilmas Eckkneipe. Die Anderen warteten bereits und begrüßten die Ankommenden schon von weitem lautstark. Leicht angetrunken schälten sich die beiden Fahrgäste aus dem Taxi, stellten sich zu den anderen und der ein oder andere rauchte vor dem Lokal noch eine Zigarette. Wilma war dazugekommen, trug ebenfalls ein blaues Shirt mit dem Aufdruck »Pauls Security« und rauchte eine mit. Basti stützte sich auf seinen Chef, der seine liebe Mühe damit hatte, seinen Lehrling auf den Beinen zu halten. Nachdem die Kippen im Aschenbecher vor dem Eingang zur Kneipe ausgedrückt waren, betrat die ganze Gesellschaft Wilmas Eckkneipe.
Die Musik wurde aufgedreht und man trank an der Bar stehend das erste Bier. Als der Wirt dabei war, das Zweite aus dem Hahn zu lassen, betrat eine ältere, sehr stabil gebaute Dame den Gastraum. Sie ging sofort auf Paul zu, packte ihn am Bund seiner Jeanshose und zog ihn hinter sich her in die Mitte des Raumes, griff sich einen Stuhl, drückte Paul darauf und begann sich im Rhythmus der Musik vor ihm zu bewegen. Da bewegte sich einiges ...
»Pauls Security« klatschte und johlte, sein Schwiegervater tanzte mit und Basti stand wie angewurzelt, mit hochrotem Kopf und aufgerissenen Augen an der Bar. Langsam öffnete die Dame ihren Mantel, drehte sich zu Paul, kam ganz nah an ihn heran und warf den Mantel nach hinten weg.
»Oh Gott!«, Paul wusste nicht, wo er hinschauen sollte, und wäre am liebsten davongelaufen. Die »Stripperin« stand vor ihm, in brustfreier Lederkorsage, Ledertanga und Netzstrümpfen. Gut, ihre Brüste waren besser in Form, als er es zuvor vermutet hätte, aber trotzdem bestand wenig Gefahr, sich in die Dame zu verlieben. Sie beugte sich nach vorne, spitzte die Lippen, kam mit ihrem Gesicht immer näher an Paul heran. Der sah die tiefen Falten unter ihren Augen und über ihren Lippen, die leichte Behaarung auf ihrem Kinn und zog seinen Kopf gerade noch rechtzeitig zur Seite. Er verlor dabei seinen Schleier, hörte ihr Lachen und sah wieder nach vorne. Genau in diesem Augenblick drückte sich die halbnackte Oma nach oben und dabei Paul ihre Zwillinge ins Gesicht. Sie umklammerte seinen Kopf, drückte ihn nach unten, so dass er keine Chance hatte zu entkommen. Seine angebliche Security dachte nicht mal daran einzuschreiten. Im Gegenteil, alle klatschten und lachten.
Sie ließ von ihm ab, drehte sich herum, beugte sich nach vorne und Paul glaubte den Mond aufgehen zu sehen. Sie stellte sich wieder auf, und zog ruckartig den Tanga nach vorne weg. Hinten änderte sich nichts, der String, der vorher nur erahnt werden konnte, war jetzt eben sicher nicht mehr da. Sie drehte sich wieder zu ihrem Opfer, spreizte leicht ihre Beine und ließ sich so auf seinem Schoß nieder. Ihre Intimbehaarung verbarg nun mehr als zuvor ihr Slip und sie begann, sich rhythmisch auf ihm zu bewegen. Eine Erregung stellte sich bei ihm deshalb nicht ein, im Gegenteil, er war sich sicher, dass er selbst in der Hochzeitsnacht beim Gedanken an diese Szene seine liebe Not haben würde, seinen Freund aus der Reserve zu locken. Das Lied war zu Ende, die freundliche Oma drückte Paul einen Kuss auf die Wange, lachte ihn an und verschwand, nachdem sie ihre Kleidungsstücke zusammengelesen hatte, in der Damentoilette. Seine Freunde hatten scheinbar Spaß gehabt, beinahe alle lachten, lediglich Francesco verzog angewidert sein Gesicht. Basti lief der Schweiß übers Gesicht und Pauls Schwiegervater begleitete die Oma breitbeinig tanzend und mit dem Hintern wackelnd bis zur WC-Tür. Paul konnte sich zunächst nicht rühren, auch er schwitzte, hatte ein rotes Gesicht und seine Haare standen in alle Richtungen ab. Er pustete kräftig durch, stand auf, schob den Stuhl zurück an den Tisch und mit der Frage:
»Habt ihr Spaß gehabt?«, ging er zurück an die Bar.
Farhad legte den Arm um seinen Freund, drückte ihn an seine Schulter und sagte:
»War doch scharf die Alte, oder!?«, Paul gab keine Antwort und setzte sich lachend auf den Barhocker, um zu verschnaufen.
Die strippende Oma verabschiedete sich, jetzt wieder in zivil, von den Gästen und verließ Wilmas Gaststube. Es wurde weiter getrunken, gelacht und mit dem Anstieg des Alkoholpegels nahm auch die Lautstärke zu und die Stimmung wurde noch ausgelassener. Farhad stand auf, lenkte seine Schritte wie selbstverständlich hinter die Theke und drückte an Wilmas Musikanlage herum. Türkische oder arabische Musik erklang, was man alleine an den Instrumenten erkannte, denn vom Gesang her hätte auch die Möglichkeit bestanden, dass die Sängerin nach der Feuerwehr rief oder Zahnschmerzen hatte ...
Zwei Bauchtänzerinnen tanzten aus dem mit »Privat« gekennzeichneten Raum hinter der Theke und boten in der nächsten halben Stunde eine grandiose Show. Sie zeigten viel aber nicht alles, hatten eine erstaunliche Körperbeherrschung, aalten sich auf dem Boden und bewegten ihre Körper schlangenartig im Stehen. Traumhaft schön! Nicht nur Paul war sichtlich angetan von dieser Darbietung, sein Schwiegervater verlor jede Hemmung, ließ es sich nicht nehmen hin und wieder mit den Damen zu tanzen und zu versuchen ihre Bewegungen nachzuahmen. Basti sabberte derweil auf die Theke und der Rest der Herren klatschte rhythmisch zur Musik. Nach der Show ließ sich jeder Einzelne mit den Tänzerinnen fotografieren und zum Schluss ließen sich alle gemeinsam ablichten. Nur kurz nachdem die Damen den Gastraum wieder verlassen hatten, begannen einige zu schwächeln. Basti legte seinen Kopf auf seinen verschränkten Armen an der Bar ab und Pauls Schwiegervater verzichtete auf die Arme und presste seine Stirn direkt auf die Theke. Die Anderen unterhielten sich lallend weiter, lachten und nahmen das eine oder andere Erinnerungsfoto mit dem Handy auf. Der Wirt hatte die CD gewechselt und die Lautstärke leicht heruntergedreht.
Einige Zeit später ließ Farhad seinen Freund alleine an der Bar sitzen und verschwand aus dem Lokal. Paul dachte, Farhad würde entgegen seiner Gewohnheit eine rauchen gehen, überlegte kurz, ob er ihm folgen sollte, fühlte sich aber zu schwach und blieb einfach sitzen.
»So ihr lieben Leute, wir kommen zum letzten Akt des heutigen Abends!«, Paul sah in Richtung Eingang, wo sich sein türkischer Freund aufgebaut hatte.
»Wir hätten noch eine Stripteaseeinlage, Paul wurde heute schon bedient und wenn er nicht möchte, darf gerne ein anderer!«
Paul schüttelte den Kopf und winkte gleichzeitig ab. Er hatte gerade den Anblick der strippenden Oma etwas verdrängt und war nicht bereit die Show der Bauchtänzerinnen, die sich in seinem Gedächtnis eingebrannt hatte, mit einer neuerlichen Horrorvorstellung zu überschreiben. So kaputt Basti eben noch an der Bar gehangen hatte, so schnell war er jetzt unter dem Gelächter der anderen auf Farhad zugelaufen, bekam wie zuvor Paul einen Stuhl hingestellt und saß nun erwartungsvoll und schwitzend in der Mitte des Raumes.
Farhad öffnete die Tür hinter sich und eine hoch aufgeschossene, schlanke Blondine in Minirock und bauchfreiem Oberteil stöckelte aufreizend mit der Hüfte wackelnd in den Gastraum. Das Oberteil war sehr gut gefüllt und bei jeder Bewegung rutschte das, was eigentlich bedeckt sein sollte, weiter nach oben. Ihre strammen Schenkel warfen den Saum ihres Minirockes bei jeder Bewegung so nach oben, dass ihre Pobacken abwechselnd darunter hervorschauten. Kaum hatte sie Basti erreicht, stellte sie sich breitbeinig vor ihm auf und mit dem nächsten Lied begann sie ihre Show. Diese Blondine fackelte nicht lange, die paar Stücke Stoff, die sie getragen hatte, flogen Basti um die Ohren ...
Sie drückte den blauroten Kopf des Lehrlings gegen ihre pralle beringte Oberweite, rieb ihr nacktes Hinterteil an seiner Jeans, setzte sich breitbeinig auf ihn, packte seine Hände und führte sie, begleitet vom Grölen und Klatschen der anwesenden Männer, über ihren Körper. Paul konnte es kaum fassen, es war wie immer, er hatte die Arbeit gehabt und Basti erntete den Lohn. Die wirklich gut gemachte Show wurde von allen genossen, aber war deutlich zu schnell beendet. Die Stripperin sammelte ihre Utensilien zusammen, bückte sich dabei so geschickt, dass egal wie sie stand, daraus noch mal eine Extra-Show wurde und war unter johlendem Applaus in der Damentoilette verschwunden. Pauls Schwiegervater in spe fühlte lachend Bastis Puls und der dicke Lehrling blieb einfach auf seinem Stuhl in der Mitte des Lokals sitzen. Die übrigen Herren hatten sich wieder ihren Getränken gewidmet, registrierten kaum noch, dass sich die Blondine bei Farhad und Basti verabschiedete und die Kneipe verließ.
Nur kurze Zeit später beendete Farhad mit der Aufforderung, dass jetzt alle den werdenden Ehemann nach Hause bringen sollten, den Männerabend. Vor Wilmas Eckkneipe wurde noch eine geraucht und selbst Wilma, der wie sich heute herausgestellt hatte, eigentlich Günter hieß, ließ es sich nicht nehmen Paul nach Hause zu begleiten. Die zehn Herren wankten singend und johlend durch die Straße, ernteten dafür hin und wieder lautstarken »Beifall« von genervten Anwohnern und bedankten sich bei diesen, indem sich Udo und Pauls Chef abwechselnd an deren Hausfassaden erbrachen. Am Hauseingang wurden Wilma, Pauls Chef, Basti und Hans verabschiedet, der Rest der Gesellschaft schleppte sich ins Haus, verabschiedete Paul an dessen Wohnungstür und verschwand im Treppenhaus. Paul warf seine Tür ins Schloss, ertastete den Lichtschalter des Badezimmers, stützte sich beim Pinkeln mit einer Hand an der Wand ab, drückte die Spülung und schwankte in sein Schlafzimmer und war nur kurz darauf fest eingeschlafen.
14. Die Herberts
Dienstag, 9:48 Uhr.
Was für eine Lautstärke ... In diesem Haus konnte man selten Ausschlafen, aber heute übertrieben seine Nachbarn eindeutig. Er wollte schlafen, verspürte Übelkeit und hatte Rückenschmerzen, wunderte sich, dass es in seinem Schlafzimmer so extrem hell war, zog sich deshalb die Decke über den Kopf und ärgerte sich weiter über den morgendlichen Lärm. Paul wollte sich nicht weiter stören lassen und döste tatsächlich noch einmal kurz weg. Sabines Stimme riss ihn aus dem Dämmerschlaf:
»Steh auf jetzt, wegen dir verpassen wir unsere Hochzeit!«, damit wurde ihm die Decke weggerissen und als er die Augen öffnen konnte, sah er sich von einer Menschenmenge umgeben.
»Was ist los, was wollt ihr alle von mir? Gebt Ruhe, ich will schlafen!«, antwortete er schwer verständlich.
Ruhe bekam er nicht, die versammelte Nachbarschaft quittierte sein Verhalten mit lautem Gelächter und Sabine wurde noch lauter:
»Wenn du nicht gleich aufstehst, dann, dann ...«
Vorsichtig öffnete er wieder die Augen, die Helligkeit schmerzte und er sah sich in seinem Schlafzimmer um. Keine Möbel, die halbe Nachbarschaft versammelt, festlich gekleidet, Sabine ... Es dauerte eine ganze Weile, bis er die visuellen Eindrücke verarbeitet und richtig eingeordnet hatte. Da lag er also auf einigen Kartons, war zugedeckt mit einem staubigen Vorhang, Udo, Farhad und Vater D´Violenza standen lachend um ihn herum und seine Freundin tobte in einem weißen Kostüm durch sein Schlafzimmer. Langsam schlichen sich Worte wie »Junggesellenabschied« und »Hochzeit« in seinen Kopf ...
Es wurde definitiv Zeit aufzustehen!
Paul quälte sich hoch, torkelte halbnackt durch seine Wohnung, durch das Treppenhaus in Sabines Wohnung und in ihr Badezimmer. Jeder Lichtstrahl und jedes Geräusch schmerzte. Er hielt seinen Kopf so ruhig wie möglich und hätte ihn am liebsten rechts und links festgehalten.
»Wir sollten in vierzig Minuten am Standesamt sein, beeile dich!«, Sabine hatte gerufen, er antwortete ihr nicht, ließ sich auf dem Klosett nieder und bestieg danach die Dusche. Er kämpfte immer noch gegen seine Übelkeit und die Kopfschmerzen, aber ganz langsam und nach und nach kam er im Hier und Jetzt an ...
Noch nicht ganz trocken, mit dem Badetuch umwickelt schlurfte er an seiner Zukünftigen und der Nachbarschaft vorbei ins Schlafzimmer, trocknete sich komplett ab und zog sich an. Wieder im Bad putzte er sich die Zähne, übergoss sich mit Parfüm und bändigte seine Haare, um sich kurz danach an den Küchentisch zu setzen. Seine Zukünftige war von seinem Auftreten wenig begeistert und begann wieder zu schimpfen:
»Blödmann! Eigentlich solltest du mich so nicht sehen, aber Farhad hat hier geklingelt und geklopft, nichts! Er hatte ja keine Schlüssel, also musste ich herfahren!«, damit bekam er eine Tasse schwarzen Kaffee vor sich auf den Tisch geknallt.
»Du solltest mich so auch nicht sehen!«, gab Paul kleinlaut zurück, erntete von Sabine Kopfschütteln und von Farhad ein breites Lächeln. Sein türkischer Freund saß mit am Tisch, Udo und Francesco warteten scheinbar draußen. Paul trank langsam seine Tasse aus, stellte sie in die Spüle und verließ direkt danach mit seinem Trauzeugen und seiner Braut die Wohnung. Papiere und Ringe hatte Sabine eingesteckt, denn ihrem Zukünftigen wollte sie in diesem Zustand nicht vertrauen. Francescos Alfa stand mit Blumen geschmückt vor dem Haus, Fabrizio hielt die Tür auf und das Brautpaar nahm auf der Rückbank Platz. Einige Zeit danach setzte sich ein schwerer Chopper vor den geschmückten Wagen und Udo knatterte, als sich die Fahrzeuge in Bewegung setzten, mit seinem Uraltopel qualmend hinter dem geschmückten Cabrio her.
Paul legte einen Arm um seine Braut, Sabine lächelte ihn an und hupend ging es durch die Innenstadt. Der Harley-Fahrer fuhr vorneweg, winkte anderen Autofahrern, die sich zwischen die kleine Kolonne setzen wollten, zur Seite und stellte sein Motorrad quer vor dem Standesamt ab. Fabrizio sprang vom Beifahrersitz, öffnete auf Pauls Seite die Tür, half zunächst dem Bräutigam heraus, der nun seinerseits die Hand seiner Braut hinhielt, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Vor dem Wagen trennte sich das Paar, um jeden einzelnen Gast zu begrüßen, Hände zu schütteln, umarmt und geküsst zu werden. Sabines Familie war vollzählig angetreten, bestand lediglich aus ihren Eltern und dem Großvater mütterlicherseits. Wirklich gute Freundinnen oder gar Freunde hatte sie nicht mehr, ihr Ex hatte da ganze Arbeit geleistet und alle vergrault. Ihr Großvater, ein beinahe riesiger Mittsiebziger, trug eine Art Tracht und einen Filzhut, als er sich zackig bei Paul vorstellte:
»Gustav Adolf Bösewetter, angenehm!«
Gustav Adolf schlug dabei die Hacken zusammen und sah Paul streng an. Unwillkürlich hatte auch der sich gerade hingestellt, die Arme nach unten gestreckt und nur mit Mühe verhindert, dass sein rechter Arm extremer reagierte. Beinahe ängstlich nannte nun auch der Bräutigam seinen Namen und bekam dafür auf die Schulter geklopft.
»Werden schon miteinander klarkommen, wegtreten junger Mann!«, damit wurde er von dem Alten stehengelassen.
Pauls Mutter drückte sich bei der Begrüßung einige Tränen aus den Augen, Gisela kämpfte sichtlich mit ihren Nerven und sein Vater war nirgendwo zu finden. Die Italiener trugen dunkle Anzüge, rote Hemden und Sonnenbrillen, Mutter D´Violenza erschien mit dem dazu passenden roten Samtkleid und hochgesteckten Haaren. Seine Arbeitgeber hatten alle Termine abgesagt und erschienen recht leger gekleidet, drückten ihrem Angestellten zur Begrüßung einen Umschlag in die Hand und mischten sich wieder unter die anderen Gäste. Hans und seine Frau Silke hatten verweinte Augen, nahmen ihren zukünftigen Schwiegersohn in die Mitte und umarmten ihn minutenlang gemeinsam. Udo sah aus wie immer, roch als er Paul umarmte immer noch derart unangenehm nach Alkohol, dass der zu kämpfen hatte, um den Brechreiz zu unterdrücken. Basti stand kreidebleich aber mit akkurater Frisur am Eingang zum Standesamt, hatte augenscheinlich noch mit den Folgen der letzten Nacht zu kämpfen oder Probleme mit der Atmung. Seine Eltern hatten ihn wahrscheinlich mit vereinten Kräften und Gleitmittel in seinen viel zu engen Konfirmationsanzug gedrückt.
»Wir müssen rein!«, Farhad hatte Weste und Helm in den Satteltaschen verstaut und sich in seinem dunklem Anzug neben Basti aufgebaut.
»Mein Vater fehlt noch!«, Paul drehte sich verzweifelt um die eigene Achse, konnte seinen alten Herren aber immer noch nirgends finden.
»Der wird es wieder vergessen haben!«, damit schob Pauls Mutter ihren Sohn in Richtung Standesamt.
»Recht so, junge Frau, voran!«, wurde sie dafür von Opa Bösewetter gelobt. Gut, es hatte ja keinen Sinn. Die Standesbeamtin würde nicht warten wollen und sein Vater war nun mal nicht als sehr zuverlässig bekannt. Er konnte die Trauung tatsächlich und ohne bösen Willen vergessen haben. Die Hochzeitsgesellschaft betrat geschlossen den Trauungssaal des Standesamtes, in dem gut und gerne fünf Mal so viele Menschen Platz gehabt hätten. Die Braut bekam einen Stuhl zugewiesen, Paul nahm rechts daneben Platz und beide wurden von ihren Trauzeugen, Gisela und Farhad, flankiert. Die Standesbeamtin saß noch hinter ihrem großen Schreibtisch, sortierte Papiere und warf dem Paar hin und wieder wohlwollende Blicke zu. Als alle ihren Platz gefunden hatten, stand sie auf und begann mit der Zeremonie.
Sie sprach von Liebe, von Treue, von guten und schlechten Zeiten, von ihrer Hoffnung, dass das hier zu trauende Paar nicht unter die hohe Anzahl derer fallen würde, die auch wieder geschieden würden. Sabines Eltern hatten schon beim Betreten des Saales ihre Tränen nicht mehr unterdrücken können und weinten während der gesamten Trauung. Sabine weinte los, als es um gute und schlechte Zeiten ging, Gisela weinte, als sie ihre Mutter schluchzen hörte, und bei Paul flossen die Tränen, als die Beamtin die hohe Scheidungsrate erwähnte. Udo lockerte die Situation wieder auf und hatte die Lacher auf seiner Seite, indem er, als die Standesbeamtin fragte: »Wollen sie, Paul Egon Meier, die hier anwesende Sabine Herbert zu ihrer Ehefrau nehmen?«, aufstand und rief: »Lauf Paul, es ist noch nicht zu spät!«
Natürlich lief Paul nicht!
Stattdessen tauschte man die Ringe und die Urkunde wurde vom Brautpaar und den Zeugen unterschrieben. Paul hatte seine liebe Not eine ansehnliche Unterschrift mit dem Namen »Paul Egon Herbert« hinzubekommen und zu guter Letzt durfte endlich geküsst werden. Sabine und Paul verließen nach einem Glas Sekt und nachdem alle gratuliert hatten unter dem Beifall der Anwesenden das Standesamt als Herr und Frau Herbert. Draußen rauchte der Bräutigam umgeben von Farhad, Udo, Basti, seinen Arbeitgebern und den Italienern eine Zigarette. Sabine hatte ihnen den Rücken zugedreht und sprach mit ihren Eltern. Pauls Mutter unterhielt sich angeregt mit Opa Bösewetter, einige Umschläge wurden überreicht und die Stimmung war ausgelassen. Eben in diesem Moment hielt ein kleiner Sportwagen genau hinter Paul auf dem Bürgersteig. Sein Vater stieg aus, ging um den Wagen herum, packte Paul am Arm, drehte ihn zu sich und umarmte ihn.
»Papa wo warst du?«, Robert Meier wurde von den Umherstehenden anklagend gemustert.
»Wie wo war ich? Deine Mutter hatte gesagt, die Hochzeitsfeier beginnt um zwölf Uhr, sag nicht, dass ich zu spät bin!«
Paul sagte erst mal gar nichts, sondern schüttelte nur den Kopf. Sein Vater bekam einen roten Kopf und kniff die Augen zusammen.
»Sag jetzt nicht, dass ich die Trauung meines Sohnes verpasst habe!«
Alle, die eben noch vorwurfvoll in seine Richtung geschaut hatten, drehten sich langsam weg und taten so, als hätten sie die Unterhaltung nicht verfolgt.
»Papa die Feier beginnt um zwölf bei Sabines Eltern, die Trauung begann hier um elf Uhr.«
Farhad sprang Paul zur Seite und gemeinsam redeten die Freunde auf Robert Meier, der aussah, als wollte er jeden Moment einen Ritualmord begehen, ein. Pauls Vater hatte Tränen in den Augen, biss auf seine Unterlippe, aber fing sich langsam wieder.
»Paul, mir ist wichtig, dass du weißt, dass ich alles getan hätte, um dabei zu sein!«, jetzt wurde er von seinem Sohn umarmt.
»Ich weiß Papa!«
Sabine kam auf die beiden zu, legte ihrem Ehemann eine Hand auf die Schulter und fragte:
»Willst du mir nicht endlich deinen Vater vorstellen?«
Paul löste die Umarmung, sah seine Frau an und wollte gerade anfangen zu sprechen, als diese sich umdrehte und einfach ging. Robert, der eben noch Tränen in den Augen gehabt hatte, stand nun mit weit aufgerissenen Augen da und man merkte ihm an, dass er extrem nervös war. Er drehte sich weg, schüttelte den Kopf, drehte sich wieder zu seinem Sohn und wäre wohl am liebsten einfach weggelaufen. Paul verstand weder das Verhalten seiner Frau noch die Reaktion seines Vaters, brauchte einige Sekunden, um seine Gedanken zu sortieren, drehte sich dann ebenfalls herum und folgte Sabine. Als er sie am Arm zu fassen bekam, drehte sie sich herum, grinste Paul an und flüsterte:
»Weißt du, wer das ist?«
Was für eine Frage, natürlich wusste Paul, wer das war.
»Mein Vater!?«, Sabine lachte.
»Egal lass gut sein!«, damit ging sie süffisant lächelnd auf ihren Schwiegervater zu und reichte ihm die Hand. Zuerst schwiegen beide, Pauls Vater griff die Hand seiner Schwiegertochter und Sabine, die deutlich sichtbar einige Zeit gebraucht hatte, um die richtigen Worte zu finden, sprach ihn nun direkt an:
»Wir kennen uns ja schon!«
Paul warf erst ihr einen verwunderten, dann seinem Vater einen fragenden Blick zu und sein Vater, der von Natur aus nicht der Größte war, wurde immer kleiner.
»Heute fassen sie mal nur meine Hand an und ja, die schüttele ich, dann gibt es für uns alle ein Happyend!«, sprach Sabine nun mit fuchsigem Unterton weiter. Paul verstand noch nicht wirklich, was das alles zu bedeuten hatte, aber ein haarsträubender Verdacht kochte in ihm hoch und auch er drehte sich weg. Nachdem seine Frau die Hand ihres Schwiegervaters losgelassen hatte, ging sie, ohne ihren Mann eines Blickes zu würdigen, zurück zu ihren Eltern. Paul griff den Arm seines Vaters und zog ihn einige Schritte zur Seite.
»Sag mal, als du vor kurzem bei mir vorbeischauen wolltest, plötzlich keine Zeit mehr hattest und so schnell wegwolltest, hast du nicht rein zufällig Sabine besucht?«, herrschte er seinen Vater an. »Du bist also der alte Sack, von dem Sabine erzählt hat? Der sich nackt auf die Massage-Liege gelegt hatte, ihr an die Brust gegriffen hat und eine Massage mit Happyend wollte?!«, fragte er nun detaillierter.
Robert Meier druckste herum und antwortete kleinlaut: »Ich hatte ihre Anzeige gelesen und dachte ...«
Sabine wollte die Situation scheinbar bereinigen und schob Paul zur Seite.
»Lass uns doch mal alleine!«, flüsterte sie ihm dabei zu. Sie hakte sich bei Robert unter und beide stellten sich etwas abseits. Farhad, der das Gespräch von Weitem verfolgt hatte, drückte Paul in Richtung der andern Gäste, legte seinen Arm um Pauls Schulter und unterhielt sich dabei mit Sabines Eltern, mit Udo und den Anderen, die jetzt nach und nach dazu kamen. Paul beobachtete durch die Augenwinkel, wie sich die Unterhaltung zwischen seinem Vater und Sabine entwickeln würde. Zuerst redete Sabine mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihren Schwiegervater ein, einige Zeit später beobachtete Paul, dass sich beide angeregt unterhielten und wieder kurze Zeit später konnten sie schon miteinander lachen. Gott sei Dank, eine Eskalation war nicht mehr zu befürchten. Paul löste sich von seinen Gästen, ging auf seine Frau zu und legte den Arm um sie.
»Na wie ist es?«, fragte er.
»Alles geklärt mein Schatz, war eben ein Missverständnis!«, gab sie blinzelnd zurück.
Robert nickte zu jedem Wort seiner Schwiegertochter, die jetzt seine Hand nahm und ihn in Richtung ihrer Eltern zog. Paul fiel ein Stein vom Herzen, alles war gut, alle konnten miteinander reden und nur seine Eltern gingen sich gegenseitig aus dem Weg und würdigten sich keines Blickes. Sein Vater unterhielt sich mit Sabines Eltern, seine Mutter lachte mit Opa Bösewetter und der Rest stand bei Paul.
Eine Zigarette später bestieg die Hochzeitsgesellschaft ihre Fahrzeuge und angeführt von Farhad ging es hupend in Richtung des Einfamilienhauses der Familie Herbert. Auf der großen Terrasse war alles für eine schöne Feier vorbereitet, Bänke und Tische mit weißen Tüchern überzogen, zu einer langen Tafel zusammengestellt und mit Blumen geschmückt worden. Ein Caterer hatte ein Büffet aufgebaut und ordentlich aufgefahren. Das Brautpaar nahm am Kopfende Platz und die anderen Gäste verteilten sich ohne Sitzordnung an der Tafel. Aufstehen musste keiner, man konnte sich zwar am Büffet bedienen, aber auf Zuruf wurde das Essen und die Getränke auch direkt von zwei freundlichen Damen an den Tisch gebracht. Ein Alleinunterhalter hatte sein großes Equipment unmittelbar neben dem Getränkeausschank aufgebaut und gab zuerst sein Repertoire an Liebesliedern zum Besten, konnte aber auch härter und streute zur großen Freude des Bräutigams hin und wieder Hardrock oder Heavy Metal Stücke ein.
Zuerst wurde die wunderschöne und sicher nicht billige, vierstöckige Hochzeitstorte angeschnitten und unter den Gästen verteilt. Keiner blieb lange an einem Platz sitzen und alle unterhielten sich kreuz und quer miteinander. Hans Herbert hatte sichtlich Spaß, diagnostizierte Rücken- und Blutdruckprobleme, schrieb in seinem Notizblock herum und vergaß auch nicht zu fragen, ob seine Frau Termine bei befreundeten Spezialisten machen sollte. Schließlich kam es, wie es kommen musste: Er saß Gisela gegenüber und kam auch nicht mehr von ihr los, schrieb wie ein Wilder auf seinem Notizblock herum, schüttelte den Kopf, nickte hin und wieder und war ganz in seinem Element. Sabine redete viel mit ihrem Schwiegervater, an dessen lockerer Art sie augenscheinlich Gefallen gefunden hatte. Sorgen bereitete Paul nur seine Mutter: Sie saß neben Gustav Adolf Bösewetter und wich ihm auch den Rest des Tages nicht mehr von der Seite.
Nachdem Kaffee und Kuchen abgeräumt waren und die ersten Biere auf dem Tisch standen, wurde es noch lockerer und lauter. Alle prosteten sich zu, Sabines Vater hielt eine Rede und selbst Robert ließ es sich nicht nehmen, einige Worte an die Gäste, seine Schwiegertochter und vor allem seinen Sohn zu richten. Hans redete hauptsächlich von seinem Wunsch einen Nachfolger zu bekommen und darüber, dass nicht Geld und Gut die wichtigsten Dinge wären, sondern Gesundheit und Zufriedenheit. Aber auch, dass es nicht verwerflich sein konnte, mit der Gesundheit Anderer so viel Geld zu verdienen, um zufrieden leben zu können, wollte er unbedingt erwähnt haben. Robert stellte in seiner Rede dagegen den Spaß und die Erotik in den Mittelpunkt. Er brachte seinen Wunsch zum Ausdruck, dass nie Langeweile im Schlafzimmer des frischgebackenen Ehepaares einziehen sollte, wies darauf hin, dass Sabine mit ihrer Figur und den sehr sichtbaren Vorzügen alle Voraussetzungen mitbringen würde, seinen Sohn glücklich zu machen, wenn der nur seinen Teil dazu beitragen wollte. Pauls Vater erntete großen Applaus für seine Ausführungen, wurde hin und wieder durch ein lautes »Hört, hört!« unterbrochen und nur die Mutter des Bräutigams schenkte alldem kein Gehör und sprach einfach mit Opa Bösewetter weiter.
Der Zapfhahn stand keine Minute still, die Schnaps- und Likörflaschen tanzten auf der Tafel und als irgendwann die bunte Beleuchtung eingeschaltet wurde, forderten die Gäste das Brautpaar auf, den ersten Tanz des Abends hinzulegen. Hinzulegen traf den Nagel unbarmherzig auf den Kopf. Sabine, die scheinbar irgendwann mal eine Tanzschule besucht haben musste, führte ihren Ehemann, der nur damit beschäftigt war darauf zu achten, seine Braut nicht zu verletzen, wie einen Tanzbären auf der Tanzfläche herum. Paul war erleichtert, als er endlich von seinem Schwiegervater abgelöst wurde, bedankte sich freundlich bei Hans, warf Sabine ein Küsschen zu, wollte klatschend und lachend die Tanzfläche verlassen, als er seiner Mutter in die Arme lief. Die fackelte nicht lange und ließ nun ihrerseits ihren Sohn reichlich dumm aussehen. Auch sie hatte scheinbar heimlich geübt oder hatte eben weniger Probleme sich Tanzschritte zu merken als Redewendungen. Sollte er hier wirklich der Einzige sein, der zuvor nur in den eigenen vier Wänden mit dem Staubsauger und in Unterwäsche getanzt hatte? Diese Vermutung wurde ihm zur Gewissheit, als ihn seine Mutter, ohne ihn zuvor zu fragen, an seine Schwiegermutter weiterreichte. Silke hatte mit ihrem Schwiegersohn nun deutlich weniger Spaß als Pauls Vater, der nun unter den missbilligenden Blicken seines Sohnes Sabine eng umschlungen über die Terrassenfliesen führte. Silke Herbert musste nach dem Tanzen von ihrem Gatten verarztet, der abgerissene Nagel entfernt und der große Zeh dick eingebunden werden.
Paul setzte sich alleine auf seinen Platz zurück und sah zu, wie seine Frau nun nach und nach mit allen anwesenden Herren tanzte. Seine Mutter saß wieder bei Opa Bösewetter, beide rückten immer näher zueinander und Sabines Opa legte irgendwann skrupellos seinen Arm um Resi Meier, die nicht etwa abwehrte, sondern vielmehr diese Annäherung erwiderte und ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Nicht nur Paul, auch einige andere Gäste hatten von diesem Schauspiel Notiz genommen und sahen wohlwollend nickend in Richtung des scheinbar frisch verliebten Paares. Paul schüttelte sich angewidert, erntete dafür einen bösen Blick seiner Ehefrau, die gerade die Tanzfläche verlassen hatte und sich neben ihn setzte.
»Lass sie doch, ist doch süß«, fuhr sie ihn an.
Nein, dazu wollte Paul jetzt nichts sagen, süß war doch allenfalls der Geruch in Gustav Adolfs Umgebung und dieser Anblick war sicher einiges, das Wort »süß« wollte hier einfach nicht passen. Das frisch verheiratete Paar sah nun seinen Gästen beim Tanzen zu und tat alles, um seiner Gastgeberrolle gerecht zu werden. Immer wieder setzte man sich an der Tafel um, nahm an den Gesprächen teil und ließ mit jedem Einzelnen die Gläser klingen. Paul, der noch mit den Folgen der letzten Nacht zu kämpfen hatte, war schon wieder gut berauscht. Sabine blieb bei Wasser und Orangensaft und begann irgendwann auch ihren Ehemann beim Trinken zu bremsen. Der gehorchte, füllte sein Glas ebenfalls nur noch mit Wasser und wurde im Laufe des Abends allmählich wieder klarer. Die Gäste wollte man nicht bremsen und so waren einzig Pauls Mutter und ihr »neuer« Lover zu später Stunde als nüchtern zu bezeichnen. Der Zustand von Resi Meier und Gustav Adolf konnte nicht dem Alkohol zugeschrieben werden und doch zweifelte Paul daran, dass die beiden bei klarem Verstand waren. Beim Anblick dieses Bildes, dieser beiden, bei seiner Mutter wegen ihres Umfanges und bei Opa Bösewetter dem Alter geschuldet, völlig flugunfähigen Turteltauben, verging ihm einfach alles. Dieser Umstand war auch seiner Frau nicht entgangen und sie beschwerte sich darüber:
»Opa ist beinahe zehn Jahre alleine, deine Mutter ist auch alleine, beide sind erwachsen, lass ihnen doch die Freude!«
Er wollte ja gar nichts dagegen unternehmen, aber warum sollte er sich mitfreuen? Das war nun wirklich zu viel verlangt! Seine Mutter war gut fünfundzwanzig Jahre jünger als Gustav Adolf und selbst wenn er Sabines Großvater den sicher vorhandenen wachen Verstand nicht absprechen wollte, so musste er den doch bei seiner Mutter in Frage stellen.
»Überlege doch mal, was das für Folgen hätte!«, begann er seine Frau anzusprechen.
Sabine verdrehte die Augen und sah ihn fragend an. Paul wollte sich erklären:
»Na ja, stell dir vor die heiraten!«
Sabine änderte ihren Gesichtsausdruck nicht und so sah sich Paul gezwungen ins Detail zu gehen:
»Also, wenn dein Großvater meine Mutter heiratete, dann ist dein Großvater mein Stiefvater, deine Mutter meine Stiefschwester, dein Vater ist mein Schwager, du bist meine Nichte und selbst unser Kind kann mich Großenkel und dich Cousine nennen!«
Sabine konnte nicht mehr an sich halten und begann herzhaft zu lachen, schüttelte den Kopf, umarmte ihren Ehemann und sagte:
»Wenn das dein einziges Problem ist, dann ist ja alles gut Onkel Paul!«
Paul lachte notgedrungen mit, versprach den Dingen ihren Lauf zu lassen und sich nicht weiter darum zu kümmern. Die Hochzeitsfeier zog sich bis weit in die Nacht hinein, dem Brautpaar wurde ein Taxi bestellt und in Begleitung von Farhad und Udo verließen Sabine und Paul die Feierlichkeiten. An ihrem neuen Domizil stiegen die frischgebackenen Eheleute Herbert aus dem Wagen, Paul öffnete Haus und Wohnungstüre und nur kurze Zeit danach lagen beide völlig fertig in ihrem neuen Ehebett. Pauls kleiner Freund zeigte sich einsatzbereit, erholt, voller Tatendrang und trotz der Kürze seiner Darbietung erledigte er die ihm gestellten Aufgaben zur Zufriedenheit aller Beteiligter. Beinahe zeitgleich rollten sich Sabine und Johannes zur Seite und schliefen völlig fertig ein. Paul streichelte seiner Frau über die Haare und ließ alles, was er in letzter Zeit erlebt hatte, noch einmal auf sich wirken. Alles hatte sich verändert, er hatte sich verändert, hatte Freunde, war verheiratet, würde demnächst Vater werden, hockte nicht mehr alleine vor seinem Computer herum und er hatte nur vor einem wirklich Angst: Vor dem, was ihm in der »Villa Unruh« bevorstehen würde.
ENDE