Meine geliebte Frau,
was ich Dir heute schreibe, vertraue ich diesem Papier an, weil mir im direkten Gespräch oft der Mut fehlte, Dir in die Augen zu sehen und die richtigen Worte zu finden. Die Scham war vielleicht größer als der Drang, mich zu erklären. Deshalb, meine Liebste, bitte ich Dich: Setze Dich auf unser kleines Sofa. Genau dort, wo wir so viele Abende Arm in Arm saßen, dem Ticken der Zeit lauschten und einfach nur schwiegen, weil Worte zwischen uns überflüssig schienen. Lehne Dich zurück, atme tief durch und lies.
Die Zeit des Schweigens ist vorbei. Ich muss es jetzt loswerden, dieses Gewicht, das mir zentnerschwer auf der Seele liegt und mir hier drin fast den Atem nimmt. Ich liege in diesem sterilen Weiß und weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt, um mit klarem Kopf das zu Papier zu bringen, was uns so tief verbindet – und was uns nun vielleicht, wenn das Schicksal es will, für immer trennen wird. Der Tod ist hier in diesen Gängen ein ständiger, leiser Begleiter. Günter, der junge Mann, den Du letztes Wochenende hier an meinem Bett kennengelernt hast, ist heute verlegt worden. Seine Familie ist bei ihm. Man spürt ihre Anwesenheit wie eine dunkle Wolke. Sie warten. Sie warten darauf, dass er erlöst wird. Sie warten auf das Ende ihres Sohnes, ihres Verlobten. Wenn ich zur Tür blicke, weiß ich nicht, ob ich in seinem Schicksal meine eigene Zukunft gesehen habe. Ob ich dieses hier überlebe, oder ob Günter mir auf diesem Weg nur einen kurzen, schmerzhaften Schritt voraus ist. Gerade wegen dieser grausamen Ungewissheit ist es mir so wichtig, Dir alles zu erzählen. Rückhaltlos. Du sollst Dir für immer im Klaren darüber sein, wie es damals wirklich in mir aussah und wie ich heute fühle. Lies diese Geschichte, auch wenn ich weiß, dass manche Zeilen wie Salz in alten Wunden brennen werden.
Erinnerst Du Dich an den Mann, der ich war? Ich hielt mich für frei. Ich war niemandem verpflichtet, weder privat noch beruflich. Ein Einzelgänger auf der Überholspur. Mein Leben fand zwischen Hamburg, Berlin und München statt, mein Wagen war mein Kokon, mit dem ich tausende Kilometer Asphalt fraß. Freizeit? Das war ein Fremdwort, das ich kaum kannte und noch weniger vermisste. Ich ging in meinem Beruf auf, er war mein Inhalt, mein Antrieb, fast so, als wäre die Arbeit mein einziger Urlaub vom wirklichen Menschsein. Ich schlief in Hotels, die alle gleich rochen, besichtigte lustlos Sehenswürdigkeiten und ließ es mir in teuren Restaurants gutgehen. Ich hatte Kunden, zu denen ich so etwas wie eine oberflächliche Freundschaft pflegte, und vor allem verdiente ich sehr gutes Geld. Das war mein Maßstab. Zärtlichkeit oder wahre Liebe? Das brauchte ich nicht. Ich liebte meinen Erfolg, mein glänzendes Auto, meine Eltern (die ich viel zu selten sah) und vor allem liebte ich mich selbst. Sex war für mich eine Transaktion. Ich bezahlte dafür. Ich redete mir ein: Ich kaufe keine Frauen – daran verschwendete ich keinen Gedanken, das wäre mir zu moralisch beladen gewesen. Nein, ich kaufte eine Dienstleistung. So wie ich dem Kellner Geld für ein Steak gab, gab ich einer Frau Geld für meinen Höhepunkt. Schnell, sauber, unverbindlich. Im Bordell bezahlte ich für „guten Sex“, wie man für einen guten Wein zahlt.
Im Internet war ich auf diese spezielle Privatwohnung aufmerksam geworden. Ein Etablissement, in dem die „Ware“ beinahe wöchentlich wechselte, meist Damen aus Osteuropa, die dort ihre Dienste anboten. Nur die Hausdame war eine Konstante in diesem Karussell der Körper. Ob sie die Chefin war oder selbst nur ein Rädchen im Getriebe, interessierte mich nicht. Auf meinen Touren von Berlin nach München wurde ihr Anschluss zu einer festen Station. Ich rief an, ließ mir die neuen Mädchen beschreiben wie Gerichte auf einer Tageskarte und entschied mich dann fast immer, für eine oder zwei Stunden abzuschalten. So war es auch an diesem besonderen Freitagabend. Meine Geschäftswoche war erfolgreich beendet, die Zahlen stimmten, sogar besser als erwartet. Ich hatte gut verdient und war in der Laune, auch andere verdienen zu lassen. Ich lenkte meinen Wagen durch das düstere Industriegebiet, parkte im Schatten und nahm die eiserne Treppe, die außen an der Halle direkt zu dieser Wohnung führte. Oben öffnete sich die Tür und ich wurde sofort von einer Wolke aus schwerem Parfüm und der blonden, großbusigen Hausdame empfangen. Küsschen links, Küsschen rechts – eine einstudierte Vertrautheit. »Schatzi, geh schon mal vor in das zweite Zimmer, ich schick dir die Mädchen gleich rein.« »Schatzi«. Hier hießen alle Männer so. Es war ein universeller Name für den Geldbeutel auf zwei Beinen. Meinen richtigen Namen kannte hier niemand, und er interessierte auch keinen.
Ich ging in Zimmer zwei. Ein Raum, der nur einem Zweck diente. Rote Tapeten, die wohl Leidenschaft suggerieren sollten, ein schwarzer Teppich, der jeden Fleck verschluckte. In der Mitte thronte ein großes, weißes, halbrundes Bett, das Kopfende verspiegelt, damit man sich bei der „Arbeit“ zusehen konnte. Ein weißes Ledersofa, ein Glastisch, ein Waschbecken in der Ecke und zwei explizite Aktfotografien an der Wand ließen keinen Zweifel: Hier wurde nicht geschlafen, hier wurde konsumiert. Ich setzte mich auf die Bettkante und wartete. Die Tür öffnete sich. Eine kleine, sehr dünne Blondine trat ein. Üppige Plastikbrüste, aufgespritzte Lippen, eingezwängt in eine Lackkorsage und schwarze Stiefel. »Ich bin Lena«, hauchte sie mechanisch, gab mir brav die Hand wie ein Schulmädchen und verschwand wieder. Sicher, sie war eine Sünde wert, aber sie wirkte wie vom Fließband. Dann kam Zsusanna. Rotes Catsuit, rote High Heels, schwarze Haare. Sie überragte mich mit ihren Absätzen um ein ganzes Stück. Sie fiel sofort durch mein Raster. Dann dauerte es einen Moment länger. Die Tür ging auf. Und was dann, begleitet von der Hausdame, in das Zimmer trat, verschlug mir den Atem. »Hier, unsere kleine Anfängerin Anne. Sie ist noch sehr schüchtern und braucht etwas Übung.« Die Worte „Anfängerin“ und „braucht Übung“ waren eigentlich Warnsignale. Ich suchte hier normalerweise keine Probleme, sondern professionelle Abfertigung. Und doch hörte ich mich sofort sagen: »Ja, die!« Ich hatte kaum einen Blick für Deine „Uniform“ übrig gehabt. Du trugst nur diesen weißen Spitzen-BH, den passenden Slip und weiße Stöckelschuhe, auf denen Du kaum das Gleichgewicht halten konntest. Es war nicht die Aufmachung, die mich fesselte. Es war Dein Gesicht. Deine Augen. Sie hatten eine Tiefe, die nicht in dieses billige Zimmer passte. Sie ließen mich nicht los. Die Tür fiel ins Schloss und das gedämpfte Licht der roten Lampen schloss uns ein. Die „kleine Anfängerin“ blieb zurück. Ich drückte der Hausdame noch schnell ein paar orangefarbene Scheine in die Hand, damit wir ungestört blieben, und dann waren wir allein.
Du gingst zum Bett. Du hast nichts gesagt, keine Show abgezogen. Du legtest Dich einfach hin, flach auf den Rücken, die Augen an die Decke gerichtet, und ließest mich stehen. Es war eine Ergebung, die mir damals, in meiner Blindheit, wie Routine vorkam. Ich folgte dem üblichen Ablauf: Ich zog mich aus, legte meine Kleidung ordentlich auf den Stuhl, wartete einen Moment und erledigte dann die im Gewerbe übliche Waschung selbst. Ja, man merkte, dass Du unerfahren warst. Du botest keinen Service an, Du wartetest nur darauf, dass es vorbei ging. Als ich mich neben Dich legte, spürte ich es sofort: Kälte. Nicht im Raum, sondern eine eisige Wand aus Angst, die von Dir ausging. Ich begann, Dich zu streicheln, meine Hände erkundeten Deinen Körper. Ich spürte, wie Deine Muskeln unter meinen Fingern zuckten, wie Du Dich versteiftest, nur um Dich im nächsten Moment wieder in Dein Schicksal zu fügen. Ich hatte schon viele Frauen in solchen Betten neben mir gehabt. Manche spielten Lust vor, manche waren gleichgültig. Aber eine solche Reaktion – diese Mischung aus Panik und totaler Resignation – hatte ich noch nie erlebt. Oder vielleicht hatte ich sie früher einfach nie sehen wollen. Aber ich war der zahlende Kunde. Ich hatte gutes Geld auf den Tisch gelegt und erwartete meine „Ware“. Ich schob die aufkeimenden Zweifel beiseite, ignorierte Dein Zittern und ließ meine Hand fordernd in Deinen Schritt gleiten. Deine Reaktion kam reflexartig. Du presstest die Beine mit aller Kraft zusammen. Ich hielt inne, irritiert, und blickte hoch in Dein Gesicht. Was ich sah, ließ mich erschrecken. Ich zog meine Hand zurück, als hätte ich in eine offene Flamme gegriffen. Dein wunderschönes Gesicht war schmerzverzerrt. Es war keine Maske mehr. Kleine, stille Tränen liefen unaufhaltsam über Deine Wangen in das Kissen. Ich blieb liegen, unfähig mich zu bewegen. Minuten vergingen. Dein Weinen wurde nicht lauter, aber es hörte auch nicht auf. Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. In meinem Kopf ratterte es: Sollte ich aufstehen? Mich anziehen und gehen? Aber was sollte ich der blonden Chefin draußen sagen? Dass ich versagt hatte? Dass die Ware defekt war? Also blieb ich.
In diesen Sekunden geschah die Wandlung. Zum ersten Mal sah ich nicht den Körper, den ich mieten wollte. Ich sah den Menschen. Ich interessierte mich plötzlich nicht mehr für meine Befriedigung, sondern für Deine Gefühle. Und mit diesem Erkennen kam die Scham. Ich fühlte mich schmutzig. Schuldig. »Was ist mit Dir?« fragte ich leise, fast flüsternd, und achtete penibel darauf, Dich nicht mehr zu berühren. Du bliebst liegen wie ein Stein und starrtest mich mit diesen großen, dunklen, verängstigten Augen an. Dann kamen die Worte, die mir den Boden unter den Füßen wegziehen sollten. »Ich habe Schmerzen da«, stammeltest Du in gebrochenem, abgehacktem Deutsch und zeigtest zitternd zwischen Deine Beine. »Es waren zu viele.« Dieser Satz hallte in dem roten Zimmer wider. Es waren zu viele. Ich hatte noch nie erlebt, dass eine Hure sich über zu viel Kundschaft beschwerte. Das hier war keine Beschwerde über Arbeit. Das war ein Hilfeschrei eines verletzten Körpers. Ich lag einfach nur da und sah Dich an. Die Stille war erdrückend. Nach einer Weile fragte ich vorsichtig: »Darf ich Dich anfassen?« Du nicktest ergeben, ohne mich anzusehen. »Du hast bezahlt.« Dieser Satz traf mich wie ein Peitschenhieb. Aber ich fasste Dich an. Nicht so, wie Du dachtest. Ich strich Dir mit meiner linken Hand ganz sanft die nassen Haare aus dem Gesicht. Mit dem Daumen der rechten Hand wischte ich die Tränen unter Deinen Augen fort. Du reagiertest nicht. Du lagst da wie eine Puppe, die darauf wartet, dass man mit ihr spielt oder sie wegwirft. »Willst Du reden?« fragte ich und sah Dir tief in die Augen. Du warst völlig perplex. »Du kennst mich nicht. Was sollen wir reden? Du hast bezahlt und Du willst Sex!« »Nein«, sagte ich bestimmt. »Wenn Du es nicht willst, dann nicht. Dann reden wir einfach. Das ist okay für mich.« Du konntest es nicht fassen. Ein Mann, der bezahlt hatte und verzichtete? Das passte nicht in die Welt, die man Dir in den letzten Tagen gezeigt hatte. »Was sagst Du ihr?« Du zeigtest ängstlich zur Tür. »Ich werde ihr sagen, dass wir viel Spaß hatten.« »Kein Sex?« »Nein, kein Sex!« Da brach der Damm. Die Frau, der Mensch neben mir, fasste ein winziges Stück Vertrauen. Wir blieben liegen, nebeneinander, aber nicht mehr als Käufer und Ware, sondern als zwei Seelen, die sich im Dunkeln gefunden hatten.
Und Du begannst zu erzählen. Du erzähltest mir von Rumänien. Von Deinem Traum, in Deutschland als Haushälterin zu arbeiten, um Geld zu verdienen. Deine Eltern hatten ihre letzten Ersparnisse geopfert. Alles hatten sie gegeben, damit ihre Tochter die Zugkarte nach München und einen dreimonatigen Deutschkurs bezahlen konnte. Du hattest schon in der Schule Deutsch gelernt, aber Du wolltest perfekt vorbereitet sein für Deine neue Zukunft. Du wolltest sie stolz machen. Du wolltest ihnen im Alter ein besseres Leben ermöglichen, ihnen etwas zurückgeben für all die Liebe und Unterstützung, die sie Dir trotz ihrer Armut geschenkt hatten. Ich hörte nur zu. Ich wagte kaum zu atmen, geschweige denn Fragen zu stellen, aus Angst, Du würdest wieder verstummen und Dich verschließen. Deine Naivität und Offenheit rührten mich zu Tränen, aber ich spürte, dass es das verzweifelte Bedürfnis war, die Last zu teilen. Du warst kaum in München angekommen, da begann der Albtraum. Man zahlte Dir ungefragt einen hohen Vorschuss aus und nahm Dir unter einem Vorwand – die Anmeldung auf dem Amt – Deine Papiere ab. Eine Woche lang durftest Du tatsächlich in einem Haushalt putzen. Du hast geschuftet, alles getan, was man Dir auftrug. Aber es reichte nicht. Du wurdest entlassen. Als Du Dich bei der Agentur meldetest, schnappte die Falle zu. Sie sagten Dir eiskalt, Du müsstest den Vorschuss sofort zurückzahlen, mit Zinsen. Deine Papiere? Die gab es erst zurück, wenn die Schulden beglichen waren. Sie hatten Angst, Du würdest Dich nach Rumänien absetzen. Aber das Geld war weg. Du hattest Kleidung gekauft, das überteuerte Hotelzimmer bezahlt, das sie Dir empfohlen hatten, und den Rest Deinen Eltern geschickt. Du hattest in jener Nacht geweint, bis Du einschliefst, ratlos, gefangen. Doch am nächsten Morgen schien es einen Ausweg zu geben. Eine neue Adresse, ein neuer Arbeitgeber. Voller Hoffnung klingeltest Du an dem kleinen Bungalow.
Der Mann, der öffnete, war das personifizierte Böse. Groß, breit, eine Boxernase, das Gesicht von Narben gezeichnet. Er bat Dich nicht herein, er zog Dich an der Hand hinein und drückte Dich in einen Sessel. Keine Höflichkeiten, keine Vorstellungsgespräche. Er erklärte Dir sachlich, dass er Deine Schulden bei der Agentur „gekauft“ habe. Und die würdest Du nun bei ihm abzahlen. Er drohte Dir mit Gericht, mit Gefängnis. Du warst gelähmt vor Schock. Aber er genoss Deine Angst. Er wurde leise, bedrohlich. Er erzählte Dir, er könne das Geld auch aus Deinem Vater herausprügeln lassen. Er habe gute Verbindungen nach Rumänien. Und er zog triumphierend Deine Papiere aus der Tasche, hielt sie Dir vor das Gesicht, auf denen die Adresse Deiner Eltern stand. Die blanke Panik ergriff Dich. »Was soll ich tun?« fragtest Du. Er lachte nur, klopfte auf den Platz neben sich auf dem Sofa. »Stell dich nicht so dumm. Abarbeiten, du verstehst schon!« Ja, Du hattest verstanden. Mehrmals an diesem Tag vergewaltigte Dich dieser ekelhafte Typ. Du musstest Dinge tun, die Du noch nie getan hattest. Du hattest zuvor nur einen einzigen Freund gehabt. Zuerst hast Du geweint und Dich gewehrt, später hast Du nur noch funktioniert, die Tränen waren versiegt. Am nächsten Tag brachte er Dich in eine Wohnung. Dort waren andere Mädchen. Dort waren „Gäste“. Du musstest bedienen. Männer bedienen. Die Männer genossen es, dass Du eine „Anfängerin“ warst. Du konntest mir nicht mehr sagen, wie viele es waren. Nachts holte Dich Michael – so hieß der Kerl – wieder ab, brachte Dich in sein Haus zurück und benutzte Dich erneut, brutal, höhnisch. Als Du ihn naiv fragtest, wie lange Du bleiben müsstest, lachte er nur. »Mädchen, du bringst doch kaum zwanzig Euro ein pro Nummer, rechne es dir aus!« Und um Dich endgültig zu brechen, legte er Fotos auf Deinen nackten Bauch. Fotos von Deiner Familie. »Guck mal, die könnten deinen Eltern doch auch gefallen, oder?« Du wusstest, Du hattest verloren. Gestern brachte er Dich hierher, in dieses Industriegebiet. Abwechslung für die Kundschaft. Und heute... heute hattest Du schon so viele hinter Dir, dass Du nur noch Schmerz empfandest.
Ich streichelte Dein Haar, während Deine Stimme im Raum verhallte. Ich rührte Dich sonst nirgends an. Plötzlich hämmerte es an der Tür. »Hallo ihr beiden, ihr habt schon kräftig überzogen!« Die Stimme der Hausdame riss uns aus unserer Blase. Du sprangst auf, Panik in den Augen, und riefst: »Wir sind fertig!« Ich zog mich an. Du gabst mir die Hand, drehtest Dich um und gingst hinaus, ohne zurückzuschauen. Draußen fing mich die Blondine ab, lächelte breit. »Zufrieden?« Ich nickte stumm. Ich drückte ihr noch einen Schein in die Hand. »Hier. Dafür, dass ich mich nicht losreißen konnte.« Ich verließ den Puff. Ich setzte mich in mein Auto. Aber ich konnte nicht einfach wegfahren und vergessen. Ich versuchte krampfhaft, nicht mehr an „Anne“ zu denken. Aber Dein Gesicht, Deine Tränen, Deine Geschichte – sie hatten sich in meine Seele gebrannt. Es dauerte genau zwei Tage. Zwei Tage, in denen ich versuchte, meinen Alltag wiederaufzunehmen, aber scheiterte. Ich war wie ein Süchtiger auf Entzug. Schon zwei Tage später lag ich wieder neben Dir in diesem roten Zimmer. Aber diesmal war es anders. Ich kaufte keine Lust, ich kaufte Dir eine Atempause. Wir redeten kaum, aber ich wusste, dass ich Dir zumindest für zwei Stunden diesen Michael und die anderen Männer vom Hals hielt. An Arbeit war nicht mehr zu denken. Ich sagte alle Termine ab, meldete mich krank. Ich konnte nicht mehr funktionieren. Ich kreiste wie ein Satellit um dieses Industriegebiet, unfähig, die Umlaufbahn zu verlassen. Am nächsten Mittag hielt ich es nicht mehr aus. Ich fuhr wieder hin, parkte vor der Halle, stieg die Stahltreppe hinauf. Doch Du warst nicht da. Die Hausdame, Andrea, bot mir die anderen Frauen an. Ich lehnte ab. Sie sah mich lange an, dann bot sie mir einen Kaffee an und bat mich auf das Sofa im Vorraum. Ihr Blick war nicht mehr geschäftsmäßig, er war mitleidig. »Du wartest jetzt nicht wirklich auf die Neue?« fragte sie. Ich nickte nur stumm. Sie seufzte schwer. »Dir ist schon klar, dass das nicht gut geht?« Ich versuchte, den Ahnungslosen zu spielen, aber Andrea war zu lange im Geschäft. Sie durchschaute mich sofort. »Weißt du, wie viele Freier ich schon gesehen habe, die sich in eine Hure verliebt haben? Das geht selten gut!«
Sie rückte näher an mich heran, ihre Stimme wurde leiser, verschwörerisch. »Schau nicht wie ein Auto. Du hättest ja vielleicht Glück, von der Kleinen aus. Sie ist noch nicht versaut, noch nicht abgestumpft. Aber an Michi kommst du nicht vorbei. Das kannst du vergessen!« Da war er wieder. Der Name, der wie ein dunkler Schatten über allem lag. Michi. Der Gorilla-Pimp. In meinem Kopf hatten sich in den letzten Stunden wahnwitzige Pläne geformt: Mit Dir durchbrennen, zur Polizei gehen. Andrea wischte sie mit wenigen Sätzen vom Tisch. »Michi sucht sie nicht. Er wartet. Spätestens wenn seine Kontakte in Rumänien bei ihren Eltern anklopfen, kommt sie freiwillig zurück.« Die Polizei? Würde für Dich nur noch mehr Schmerzen bedeuten, seelisch wie körperlich. Ich saß da, den Kopf in den Händen vergraben, die Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu. Meine Naivität zerbrach an der Realität dieses Milieus. »Verdammt, sag mir, was ich tun kann!« stieß ich hervor. Andrea lachte leise. Ich hatte mich verraten. Aber anstatt mich rauszuschmeißen, bot sie mir einen Ausweg an. Einen gefährlichen, teuren Ausweg. »Vertrau mir. Es gibt eine Möglichkeit. Aber die wird nicht billig.« Sie erklärte mir die Regeln des Spiels. Gewalt war keine Lösung, Michi saß am längeren Hebel. Wenn wir wollten, dass Du lebend und frei aus der Sache rauskommst, mussten wir Michi zufriedenstellen. Und Michi verstand nur eine Sprache: Geld. »Wir müssen ihn auszahlen. Wenn er unzufrieden ist, sehen wir die Kleine nie wieder – oder sie sieht nicht mehr so frisch aus.« Mir wurde übel bei dem Gedanken an „Schläge, Drogen, alles möglich“, wie Andrea es nüchtern aufzählte. Ihr Plan war so simpel wie perfide. Sie hatte einen Bekannten. Einen „Sergeant at Arms“ eines großen Motorradclubs. Ein schwerer Junge, aber einer mit einem gewissen Kodex. Er würde als Strohmann fungieren. »Er kauft die Kleine von Michi. Von deinem Geld. Und verkauft sie dann offiziell an dich. Für dein Geld.« Ein Menschenhandel. Doppelt bezahlt. Ich musste den Preis zahlen, den Michi verlangte, plus den Anteil für den Rocker. Ich kaufte Dich frei, indem ich mich auf ihre Ebene begab. »Take it or leave it«, sagte Andrea. Ich zögerte keine Sekunde. »Ja.« Die darauffolgenden Tage waren die Hölle auf Erden. Ich wartete in meinem Hotelzimmer, starrte auf mein Handy, lief auf und ab wie ein gefangenes Tier. Um Mitternacht klingelte es endlich. »Andrea?« meldete ich mich hoffnungsvoll. »Nein«, grollte eine dunkle, fremde Männerstimme. »Wer ich bin, tut nichts zur Sache. Wie lange brauchst du, um die ersten fünfzig aufzutreiben?« Fünfzigtausend. Mir wurde heiß und kalt zugleich. »Ich soll also einhunderttausend bezahlen?« fragte ich schwach. »Ja.« Kein Verhandeln. Keine Diskussion. Ich brauchte drei Tage. Ich begann zu rotieren. Ich plünderte meine Geschäftskonten, kratzte jeden Cent zusammen. Aber es reichte nicht ganz. Ich musste den schwersten Gang antreten: Zu meinen Eltern. Ich log meinen Vater an. Ich erzählte ihm von einem „guten Geschäft“, für das ich kurzfristig Kapital brauchte. Ich sah in seine vertrauensvollen Augen und fühlte mich elend. Ich nutzte seine Liebe zu mir, um eine Hure freizukaufen. Aber ich hatte keine Wahl. Er gab mir das Geld, ohne zu zögern, ohne Fragen.
Mit einem Umschlag voller Bargeld fuhr ich zurück ins Hotel. 100.000 Euro. Ich kannte solche Summen von Überweisungen, aber sie als Bündel im Auto spazieren zu fahren, war etwas völlig anderes. Ich hatte Todesangst – nicht um mich, sondern darum, dass ich überfallen würde und damit Deine Chance auf Freiheit verlor. Am Abend klopfte es an meiner Zimmertür. Hart, fordernd. Ich öffnete vorsichtig. Die Tür wurde aufgedrückt, und ich stolperte rückwärts aufs Bett. Ein Riese von einem Mann stand im Rahmen, er verdunkelte das Licht vom Flur. Breit wie hoch, ein Gebirge in Lederkutte. »Hast du die Kohle?« Ich stammelte etwas davon, dass wir doch erst morgen abgemacht hatten. »Meine Güte, du bist echt ein Held. Du überlebst bei uns nicht lange«, höhnte er. Ich holte den Umschlag, zählte die ersten fünfzigtausend ab. Meine Hände zitterten. Der Riese lachte mich aus. »Ich habe schon viele Idioten gesehen, aber du bist der Größte.« Er nahm das Geld. Er hätte mich jetzt einfach ausrauben können. Er hätte das Geld nehmen können, Dich trotzdem weiter anschaffen lassen und doppelt kassieren können. Ich war ihm völlig ausgeliefert. »Du hast Glück, dass mir Absprachen heilig sind«, knurrte er, steckte das Geld ein und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Da saß ich nun. Fünfzigtausend Euro ärmer, und ich hatte nichts in der Hand. Keine Quittung, keine Garantie, keine Anne. Nur das Versprechen eines Verbrechers. Ich stopfte das restliche Geld panisch in meinen Bettbezug – eine sinnlose Geste, die mir aber für den Moment ein winziges Gefühl von Sicherheit gab. Die Nacht war lang. Und die Angst, dass ich gerade das Erbe meines Vaters und meine Zukunft an einen Betrüger verloren hatte, ließ mich kein Auge zutun.
Der nächste Tag war eine einzige, zähe Qual. Ich verließ das Hotelzimmer nicht, starrte Wände an, während die Panik in mir Wellen schlug. Hatte ich gerade 50.000 Euro verbrannt? War alles umsonst? Gegen Mittag klopfte es wieder. Dieses Klopfen kannte ich jetzt. Aber diesmal riss ich die Tür auf, fast erleichtert. Der Riese stand wieder da. Diesmal nicht drohend, sondern mit einer fast kumpelhaften Freundlichkeit, die mir noch mehr Angst machte. Er streckte mir die Hand entgegen. »Ich habe deine Maus kennengelernt. Ist 'ne ganz Süße. Ich versteh dich«, brummte er. Dann wurde er geschäftlich: »Her mit dem Rest. Heute Abend kannst du sie im Clubhaus abholen.« Wieder dieses Gefühl der Ohnmacht. Ich wollte ihm das Geld nicht geben, ohne eine Sicherheit zu haben. »Ich kann dir doch nicht alles geben, was hab ich dann noch in der Hand?« Er lachte trocken. »Kerlchen, du hast auch so nichts in der Hand. Entweder du vertraust mir oder nicht. Ich hätte dir gestern schon alles abnehmen können.« Seine Logik war brutal, aber unwiderlegbar. Er erklärte mir grinsend, warum er Anne nicht gleich mitgebracht hatte: »Denk nach! Will ich wegen Menschenhandel einfahren? Ich bekomme das Geld geschenkt, weil du mich so lieb hast.«
Ich gab ihm den Umschlag mit den restlichen 50.000 Euro. Er zählte nicht einmal nach. Er ging einfach. Und erst als die Tür ins Schloss fiel, realisierte ich: Er hatte mir nicht gesagt, welches Clubhaus. Ich hatte keine Adresse. Sekunden der reinen Panik. Wie dumm konnte man sein? Doch dann vibrierte mein Handy. Eine SMS mit Adresse und Uhrzeit. Ein Felsbrocken fiel mir vom Herzen. Ich war viel zu früh da. Ich lief durch die fremden Straßen, bis die Zeit endlich reif war. Das Clubhaus war eine Festung. Laute Musik dröhnte bis auf den Gehweg. Mit klopfendem Herzen drückte ich die schwere Tür auf. Drinnen schlug mir eine Wand aus Hitze, Ledergeruch, kaltem Rauch, Schweiß und verschüttetem Bier entgegen. Ich schob mich durch eine Menge riesiger Kerle bis zur Theke. Der Barkeeper, ein Bär mit grauem Bart, ignorierte mich komplett, stellte mir wortlos ein Bier hin. Gerade als ich nippen wollte, packte mich eine Hand an der Schulter wie ein Schraubstock. »Ah, da ist er ja!« Mein „Geschäftspartner“ grinste mich an. »Wo ist Anne?« schrie ich gegen die Musik an. »Gleich, mein Großer. Sie arbeitet noch.« Mir gefror das Blut in den Adern. »Das ist nicht dein Ernst?« Er lachte laut los. »Doch. Aber nicht so, wie du denkst. Komm mit.« Er schleifte mich zu einer Sitzgruppe nahe der Bühne. Auf der Bühne spielte überraschenderweise keine Heavy-Metal-Band, sondern ein Typ mit Gitarre, der entspannten Country-Rock zum Besten gab. Dann sah ich, was er mit „Arbeiten“ meinte. Eine Frau, komplett nackt, drückte sich mit einem Tablett voller Getränke durch die Menge der Rocker. Niemand grabschte, niemand pöbelte. Ich fragte den Riesen, ob das nicht gefährlich sei. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Für die Brüder ist das gefährlich. Sie müssen sich unter Kontrolle haben. Wer zupackt, dem fehlen morgen Zähne. Das ist Corinna, die Frau unseres Secretarys. Also lass die Finger bei dir.« Ich staunte. Hier, im Höllenschlund, herrschten strengere Regeln als auf dem Oktoberfest. Nach einer gefühlten Ewigkeit schob mir der „Sergeant at Arms“ ein Kuvert über den Tisch. »Hier, mein Großer. Das Huhn gehört dir.« Ich öffnete es. Papiere, Impfpass, Fotos. Es war widerlich. Eine Übergabe wie beim Hundezüchter, wenn man einen Welpen abholt. Ein Menschenleben in einem Papierumschlag. Dann winkte er. Und ich sah Dich. Du kamst auf uns zu, nackt, das Tablett in der Hand, genau wie Corinna. Als Du mich erkanntest, leuchteten Deine Augen kurz auf – Freude. Doch sofort wich sie einem vorwurfsvollen Blick. Du dachtest, ich sei als Kunde hier. Dass ich Dir beim Bedienen zusehen wollte. Du wolltest mir ein Bier hinstellen und gehen, aber der Rocker hielt Dich auf. »Setz dich zu uns!« befahl er. Du setztest Dich zögernd, nackt und verletzlich, neben mich. »Guck nicht so böse«, sagte er zu Dir. »Er ist wegen dir hier.« Dann stand er auf, beugte sich zu mir runter und drohte mir ein letztes Mal, den Zeigefinger vor meiner Nase: »Haut ab. Aber wenn ich die Süße jemals wieder in einem Puff sehe, dann besuche ich dich. Und dann bekommst du ordentlich aufs Maul!«
Er ging. Wir waren allein inmitten des Lärms. Du sahst mich aus nassen Augen an, ungläubig. »Ich darf mitgehen?« »Lauf«, sagte ich, meine Stimme rau. »Zieh dich an. Wir hauen ab.« Die Fahrt ins Hotel. Das Schweigen. Die Anspannung fiel nur langsam von uns ab, wie alter Putz von einer Wand. Im Zimmer bestellten wir Essen, das wir kaum anrührten. Du gingst ins Bad. Du badetest lange, sehr lange. Als wolltest Du den Schmutz der Wochen, die Hände der fremden Männer, den Geruch des Clubhauses und des roten Zimmers abwaschen. In der Nacht lagst Du neben mir. In Unterwäsche. Du drehtest Dich von mir weg. Ich drehte mich von Dir weg. Wir berührten uns nicht. Es war kein Abstand aus Kälte, sondern aus Respekt. Wir waren beide erschöpft von der Schlacht. Am nächsten Morgen beim Einkaufen – Du hattest ja nichts außer Deiner Handtasche – passierte es. Ich wollte zahlen, aber Du hieltst mich zurück. »Ich habe Geld«, sagtest Du stolz. Du erzähltest mir, dass der Rocker Dir beim Umziehen 2.000 Euro zugesteckt hatte. Und einen Zettel mit seiner Nummer. »Für den Notfall«, hatte er gesagt. »Falls er Sperenzien macht, ruf an. Ich bring dich heim.« Ein seltsamer Ehrenkodex in einer brutalen Welt. Selbst der Teufel hatte offenbar Prinzipien. Am späten Nachmittag saßen wir in einem Café. Kuchen, Kaffee, Schweigen. Ich starrte auf meine Hände, unsicher, was nun kommen würde. Würdest Du gehen? Wolltest Du nach Hause? War ich nur das Mittel zum Zweck? Dann spürte ich Deine Hand auf meiner. Ich öffnete die Augen und sah in diese dunklen, tiefen Augen, die mich damals im Bordell schon gefangen genommen hatten. »Anne... soll ich Dich zu Deiner Familie bringen?« fragte ich leise. Du sahst mich lange an. Dann sagtest Du den Satz, der alles veränderte. »Afi. Nenn mich Afi.« Ich blinzelte verwirrt. »Ich heiße Afina. Afina Popescu.« In diesem Moment starb „Anne“, die Hure. Sie löste sich auf wie Nebel in der Sonne. Und Afina wurde geboren. Du drücktest meine Hand fester. »Und wie ist dein Name? Oder soll ich weiter Schatzi sagen?« Dieser kleine Scherz traf mich ins Herz. »Lukas«, stammelte ich. »Lukas... wenn du willst, darfst du mich heimbringen. Aber ich würde auch gerne bei dir bleiben.« Du fragtest mich, ob ich an das Schicksal glaube. Dass ein Ritter kam, um Dich zu befreien. Ich fühlte mich wie ein armseliger Ritter, der seine Prinzessin erkauft hatte, statt sie zu erobern. Aber Du lachtest nur und kniffst das linke Auge zu. Wir begannen unser Leben. Wir besuchten Deine Eltern in Rumänien, und ich liebte sie sofort für ihre Herzlichkeit. Wir besuchten meinen Vater, dem ich die Wahrheit über das Geld erzählte und der mir half, wieder auf die Beine zu kommen. Meiner Mutter sagten wir nichts – sie hätte den Schmerz Deiner Geschichte nicht ertragen. Drei Jahre später hielten wir unsere Tochter im Arm. Wir nannten sie Anne. Als Erinnerung, als Mahnung und als Sieg. Sie ist Dein Spiegelbild.
Und nun liege ich hier. Weißt Du, Afina, ich hatte immer diesen einen kleinen, nagenden Zweifel im Hinterkopf. Die Angst, dass Du Dich verpflichtet fühlst. Dass Du denkst, Du schuldest mir etwas, weil ich Dich „freigekauft“ habe. Dass unser Fundament schmutziges Geld war. Aber deshalb schreibe ich Dir diesen Brief aus meinem weißen Zimmer, während der Tod auf dem Flur wartet und ich an das rote Zimmer denke: Ich habe viele Frauen bezahlt. Aber dabei habe ich ein einziges Mal ein unbezahlbares Geschenk bekommen.
Du schuldest mir nichts. Du bist und warst immer frei, seit wir durch die Tür des Clubhauses traten. Ich liebe Dich, Afina. Und ich liebe unsere kleine Anne. Ich weiß nicht, ob ich hier rauskomme. Aber ich werde kämpfen. Ich werde kämpfen, Euch wiederzusehen, so wie ich damals um Dich gekämpft habe. Ihr seid meine Kraft.
Küss die Kleine für mich. Dein Lukas
Back to Top